Ludger Büter war als Berater für zerstrittene Wohngemeinschaften tätig.

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Auch nicht jedermanns Sache: Leben in einer veganen WG.

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STANDARD: Was war die skurrilste Geschichte, wegen der Sie um Rat gefragt wurden?

Ludger Büter: Es ging um die Beschwerde einer jungen Frau, die glaubte, ein Mitbewohner "stehle" ihr von der Küche aus das warme Wasser, wenn sie unter der Dusche stand. Die gemeinsame Überprüfung vor Ort ergab, dass dies technisch nicht möglich war. Trotzdem hielt sie an ihrer Überzeugung und an dem Hass auf ihren Mitbewohner fest, ein nach meiner Einschätzung im Übrigen sehr liebenswürdiger junger Mann. Das beschriebene Ereignis zeigt, wie tief der Hass gehen kann, indem er physikalische Evidenz überrollt.

STANDARD: Es soll sogar vorgekommen sein, dass WG-Bewohner verlangen, Besucher müssten ihr eigenes Toilettenpapier mitbringen.

Büter: Eine solche WG verdient einen Platz im Guinness-Buch der Rekorde. Über die Rubrik bin ich mir allerdings nicht schlüssig. Zu meinen Freunden würde ich sie nicht machen. Um etwas Akademisches dazu zu sagen: Wenn Gäste kommen, behandelt man sie auch als solche, ob in der WG oder in der Familie. Wer in der WG Besuch empfängt, punktuell oder regelmäßig dieselben Personen, kümmert sich um sie und verantwortet auch deren WG-gerechtes Verhalten. Für den Besucher gilt, die Regeln einer WG nicht auf den Kopf zu stellen, für den Gastgeber, dies auch nicht zuzulassen.

STANDARD: Apropos Toilettenpapier: Hygiene dürfte überhaupt ein Krisenthema für eine WG sein. Was können Sie darüber berichten?

Büter: Schreckliches! Sie ist neben rücksichtsloser Beschallung der häufigste Konfliktgrund. Die Intensität der Konflikte hängt mit Intimität und unser aller Ekelschwelle zusammen. Natürlich klaffen die individuellen Normen, Schwellen, Ansprüche oft weit auseinander. Wer in eine bestehende WG einsteigen will, kläre nichts mit größerer Sorgfalt als die Organisation in Bezug auf den Sauberkeits- und Hygienestandard. Wer eine WG im Wohnheim bezieht, muss oft Kompromisse eingehen. Der Nachlässige lernt dann eben putzen oder Schmutz zumindest gleichmäßig zu verteilen, der Held der Sauberkeit lernt, fünfe auch mal gerade sein zu lassen.

STANDARD: Und was gibt's zum Thema Lautstärke zu sagen?

Büter: Unruhe zu stiften ist auf erstaunlich vielfältige Weise möglich. Riesengeschrei beim Sex ist übrigens eine rein weibliche Angelegenheit. Klagen über Männer gab es nie. Dann gibt es noch langwährende und lautstarke Telefonate, damit man in Russland oder sonst wo auch noch zu hören ist. Und das möglichst zu allen Tages- und Nachtzeiten. Auch nicht zu vergessen: nächtliches Klappern mit Geschirr in der Küche, Türenschlagen bei nächtlicher Rückkehr in die WG, Musikhören in Discolautstärke etc.

STANDARD: Was raten Sie?

Büter: In diesen Punkten gibt es keine gesunden Kompromisse. Ich kann als Vermittler einer Frau nicht zugestehen, ihr erotisches Theater nur noch zehn- statt 20-mal aufzuführen. Manche Türen fallen lauter ins Schloss als andere. Darauf stellt man sich ein. Manche müssen eben nachts noch etwas essen, aber das geht auch zu Bedingungen, die andere nicht aufzumischen braucht. Das gilt ebenso für das Musikhören. Ich kann in einer WG nicht leben, als wäre ich allein.

STANDARD: Was tun, wenn eine Konfliktsituation eskaliert? Hatten Sie auch mit Schlägereien zu tun?

Büter: Ja, das kam vor. In diesem Fall muss einer gehen. Ich saß einmal einem Studenten, der handgreiflich geworden war, mit zwei Polizisten und der zuständigen Verwalterin des Wohnheims gegenüber. In diesem Fall ging es nicht ohne fristlose Kündigung und den ganzen Rest. Ein Gegenbeispiel sind zwei Männer, die sich prügelten und hernach wieder beste Freunde waren.

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Geschirr stehenlassen oder gleich abwaschen? In einer WG zu wohnen, bedeutet Kompromisse einzugehen.
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STANDARD: Was ist das eigentlich für ein soziales Gebilde, so eine Wohngemeinschaft?

Büter: Von der Familie, aus der letztlich alle WG-Mitglieder stammen, unterscheidet sich die WG durch die fehlende Hierarchie, wie es sie zwischen Eltern und Kindern gibt. In der WG wollen alle als gleichberechtigt wahrgenommen und behandelt werden.

STANDARD: Wie schafft man eine Hierarchie?

Büter: Zum Beispiel durch die Möglichkeit, WG-"Älteste" zu wählen, denen man für gewisse Zeit das Recht einräumt, auf Mängel aufmerksam zu machen und einzufordern, was als Recht oder Pflicht aller Bewohner definiert ist.

STANDARD: Für welchen Typ Mensch eignet sich die WG besonders, für welchen gar nicht?

Büter: Sie eignet sich für alle, die vom Anspruch an das Umfeld und von ihrer persönlich-charakterlichen Ausstattung keine Extreme verkörpern. Wem der Zustand der WG alles oder nichts bedeutet, hat schlechte Karten, dort glücklich zu werden. Und, wie schon gesagt, ebenso jener Bewohner, der in einer WG lebt, als wäre er allein. Ein Untergangsprogramm ist auch die Hoffnung, in der WG zu bekommen, was die Familie schuldig blieb.

STANDARD: Gibt es so etwas wie die ideale Bewohnerzahl für eine Wohngemeinschaft?

Büter: Ungerade Mitgliederzahlen sind besser, weil es bei Abstimmungen eine Mehrheit gibt. In Wohngemeinschaften, die wie Familien um ihre Gemeinschaftsräume herum leben, sollten maximal fünf Mitglieder leben. Alles andere führt zur Lagerbildung mit der entsprechenden Neigung zu mehr Konflikten.

STANDARD: Wie sieht es mit Wohnfläche aus? Wie viele Quadratmeter pro Bewohner macht eine optimale Wohngemeinschaft aus?

Büter: Studenten freuten und freuen sich immer besonders, wenn sie Zimmer von etwa 15 Quadratmetern bekommen. Ich halte die Größe aber nicht für entscheidend. Viele sind auch mit weniger Wohnraum zufrieden und wissen diesen gemütlich zu gestalten.

STANDARD: Einen Streitpunkt dürften die Kosten einer Wohngemeinschaft ausmachen. Welche Tipps haben Sie parat?

Büter: Für das, was man an Hygienemitteln gemeinsam verbraucht, sollte es eine gemeinsame Kasse geben. Seine Lebensmittel sollte jeder selbst finanzieren. Das gilt auch für WGs, deren Mitglieder einander nahestehen. Die getrennte Kasse ist kein Misstrauensvotum, wohl aber ein sicherer Schutz vor Misshelligkeiten, die andernfalls nicht ausbleiben.

STANDARD: Wann wird es Zeit, aus einer Wohngemeinschaft auszuziehen?

Büter: Wenn sich verlässlich erwiesen hat, dass die Lebensrhythmen, Wertehierarchien und menschlichen Eigenarten nicht kompatibel sind. Das ist dann der Fall, wenn man merkt: Was mir abverlangt wird, ist mehr, als ich geben kann und will.

STANDARD: Ist die Küche der wichtigste Raum in einer WG? In der "Süddeutschen Zeitung" wurde sie als "Drama Queen" unter den Räumlichkeiten einer WG bezeichnet?

Büter: Ja, das ist eine nette Idee. Die Küche ist der Ort, wo man sich nicht mehr aus dem Weg gehen kann, ist also sehr wichtig für die Dynamik einer WG, im Guten wie im Bösen. Hier entstehen Konflikte, hier redet man darüber (sofern man es tut), hier kommt man sich beim Essen näher, lernt sich kennen, definiert bewusst oder unbewusst seine Abstände zu den Mitbewohnern. Ich kann nur empfehlen, diesen in der Tat wichtigen Raum, dieses Zentrum vieler WGs, zu pflegen und zu nutzen. Bekocht man zum Beispiel einen Neuling oder dieser die WG, ist das ein sehr gern gesehener und effektiver Einstieg in die neue Gemeinschaft.

STANDARD: Wie haben sich Studierende in Sachen WG in den letzten 30 Jahren verändert?

Büter: Dazu kann ich nur etwas sagen, weil ich vor 40 Jahren selbst als Student in WGs verkehrte. Dazu gehörte auch diejenige, in der meine Frau wohnte. Manche dieser Wohnungen betreute ich Jahrzehnte später sogar. Auch die Verwaltung des Kölner Studentenwerks hatte dazu eine Meinung, der zufolge Mieter den Standard des damaligen Wohnraums heute nicht mehr akzeptieren würden.

Zu jener Zeit gab es Gemeinschaftsräume mit dem einzigen Fernseher der ganzen Etage oder gar des ganzen Wohnheims. Das begründet nette Erinnerungen an die WM 1974 in Deutschland. Was war das für ein Wechselgesang mit den ausländischen Gästen, die natürlich jedes Tor unserer Gegner bejubelten und wir im Wechsel unsere eigenen. Die damaligen Studenten nutzten ihre damaligen Möglichkeiten, die heutigen nutzen ihre. Wer wollte schon sagen, wem es damit besser ging? Sex war damals genauso wichtig wie heute, Alkohol und Drogen wurden zu allen Zeiten ge- und missbraucht.

STANDARD: Was halten Sie als Psychologe vom Satz "Der Klügere gibt nach"?

Büter: Sehr viel, so wie vom universellen Grundsatz aller Humanethik: Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Darauf beziehen sich letztlich alle, von Kant bis Konfuzius. Sie brauchen aber nur Ihre eigene Zeitung aufzuschlagen, um zu sehen, wie wenig das funktioniert. Ob jemand in einer WG verbleibt, hängt letztlich davon ab, wie sich die Ressourcen verschränken, ob also das, was jemand bekommt, in der Waagschale schwerer wiegt als das, was er entgegen seinen Werten und Wünschen investieren muss. Wohl dem, der als Klügerer nachgeben kann ... (Michael Hausenblas, Rondo, 9.10.2015)

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