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Chantal Akerman bei den Filmfestspielen in Venedig im Jahr 2011.

Foto: APA/EPA/CLAUDIO ONORATI

Brüssel/Paris – Ein Blick durch ein Fenster auf eine fremde Stadt – so beginnt Là-bas (2006) von Chantal Akerman. Die Filmemacherin ist in Tel Aviv, eine Jüdin aus Europa zu Besuch im Staat Israel, wo sie eine Art innerer Emigration wählt. Sie geht nicht aus, sie filmt nur hinaus durch die Vorhänge, durch das Fenster, auf anonyme Wohngebäude, in denen sich wenig spektakuläre Dinge zutragen.

Das Weltbewegende ist auch da, aber es ist unsichtbar: die historische Rolle des Staates Israel, die aktuelle Politik, die Gefahr terroristischer Anschläge, die Geschichte des Zionismus. Der Großvater Chantal Akermans hatte sich mit dem Gedanken getragen, nach Palästina auszuwandern, man war schon in Marseille, verzichtete dann aber auf die Passage.

Eine Generation später kam in Brüssel 1950 ein Mädchen zur Welt, das zu einer der großen Filmemacherinnen des 20. Jahrhunderts wurde, eine Grenzgängerin zwischen Kino und bildender Kunst (in diesem Jahr hat sie wieder eine Arbeit bei der Biennale in Venedig), zwischen Dokumentation und Experiment. Chantal Akerman war 15, als sie Pierrot le fou von Jean-Luc Godard sah, von dem es immer wieder heißt, er hätte in ihr den Wunsch geweckt, selbst Filme zu machen. Die Atmosphäre dieser Jahre hat sie sehr schön in dem autobiografischen Portrait d'une jeune fille de la fin des annéss 60, à Bruxelles (1993) zum Schwingen gebracht. Man kann dieses Jugendbildnis als Gegenentwurf sehen zur Strenge jenes Films, der sie 1975 berühmt gemacht hat: Jeanne Dielman, 23, Quai du Commerce, 1080 Bruxelles erzählt von einer Frau, die ein monotones Leben führt, in das nur gelegentlich ein Mann tritt, von dem sie sich für den Geschlechtsverkehr bezahlen lässt.

Feministische Darstellung

Die Länge von fast vier Stunden und die konsequente Strukturierung durch Wiederholung der immergleichen Abläufe wurden als feministische Darstellung weiblicher Entfremdung gelesen. Wie so viele Positionen der Kunst der 1970er-Jahre hat auch Jeanne Dielman eine gewisse Unerbittlichkeit im Durchexerzieren einer theoretischen Formel, und man wird diesem Meilenstein erst dann richtig gerecht, wenn man ihn im größeren Kontext von Akermans enorm vielschichtigen Werks sieht.

Ihre filmischen Arbeiten waren, darin ganz in der Tradition der Avantgarde stehend, immer auch Reflexionen auf das Vermögen des Kinos, auf die Spannung zwischen Bild und Ton, manifesten und latenten Inhalten, Objektivität und Intimität. Sie hat dabei viele Formen und Genres ausprobiert, sie hat sich im Fach der Komödie versucht (Un divan à New York, 1996), es gibt ein großartiges Musical (Golden Eighties, 1986), und sie hat sogar Proust verfilmt (einen Band aus der Recherche: La captive, 2000), oder Joseph Conrad, in dessen Roman Almayers Wahn sie Murnaus Tabu und The Night of the Hunter von Charles Laughton wiedererkannte.

Immer wieder trat sie auch selbst vor die Kamera, zum Beispiel in dem spielerischen Je, tu, il, elle (einer Überführung der drei grammatischen Personen in Elemente einer filmischen Erzählung, von der Einsamkeit in einem Zimmer bis zu einem lesbischen Liebesakt im dritten Teil), häufig aber blieb sie halb neben, halb hinter der Kamera, im Off des Tons, wie in Là-bas oder schon in News from Home, in dem sie ihre Zeit in New York Mitte der 1970er verarbeitet hat. Die Briefe der Mutter aus Belgien sind aus dem Off zu hören, ganz ähnlich war dann eben später auch in Là-bas das Verhältnis zwischen Bildern, die distanziert und unspezifisch einen Ort registrieren, und einer (persönlichen wie großen) Geschichte, die sich in diesen Bildern beinahe versteckt.

In ihrem letzten, der sterbenden Mutter gewidmeten Film No Home Movie trat all dies ungeheuer schmerzlich zutage – ein Zeugnis auch dafür, dass die Shoah noch immer nicht zu Ende ist.

"Man kann sich selbst nicht loswerden", sagte Chantal Akerman in einem Interview mit dem STANDARD anlässlich von Almayers Wahn. Die Depressionen, die sie dabei andeutete, hat sie mit einer Psychoanalyse "ein bisschen" in Schach gehalten, in erster Linie aber wohl durch ihre Arbeit. Nun kommt die bestürzende Nachricht von ihrem Tod. Mitten in einem Leben. Am Dienstag, so ihr Produzent Patrick Quinet, starb Akerman 65-jährig in Paris. (Bert Rebhandl, 6.10.2015)