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Sondereinheiten der Polizei nach einem Anschlag im Jänner 2015 in Brüssel. Die Sicherheitsdienste sind in Sorge, aus keinem anderen Land in Europa kommen gemessen an der Einwohnerzahl mehr Jihadisten als aus Belgien.

Foto: AP / Geert Vanden Wijngaert

Ein kurzer Atemzug. Mit Spannung im Gesicht erzählt Montasser AlDe'emeh seine Geschichte. Als Bub flieht er mit seiner Mutter aus Palästina nach Belgien und wächst in Brüssels berüchtigtem Problembezirk Molenbeek auf. "Die meisten Islamistenkämpfer sind von hier", sagt er.

AlDe'emeh lebte zwischen den Müden und den Geschlagenen: "Ich hasste mich selbst, manchmal war ich sogar gegen alles." Irgendwann am Ende seiner Schulzeit wurde er selbst zu einem Müden, suchte Halt und fand ihn in Ansichten von radikalen Predigern wieder. "Und dann war ich bereit zu töten." Sein Blick wirkt ernst, seine Augenwinkel verkleinern sich, als er diesen Satz spricht. Der 26-Jährige ist ein junger Mann mit viel Lebenserfahrung. Er ist auch beispielhaft für die Generation Jihad. Zornig und hasserfüllt war er einst, wollte die Anstrengung, also den "Jihad" schultern und sich der radikalislamischen Hisbollah anschließen. Seine Mutter konnte ihn im letzten Moment aufhalten.

Belgien, das geteilte Land

Eine Geschichte, wie sie für etwa 500 weitere Kämpfer aus Belgien steht. Das International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence (ICSR) hat errechnet, dass gemessen an der Einwohnerzahl kein anderer Staat in Europa so viele islamistische Kämpfer aufweist wie Belgien. Warum? "Man hat es verabsäumt, junge Muslime in Belgiens Mitte zu führen", wirft AlDe'emeh der Regierung vor. Seine Stimme hat heute Gewicht, heute ist er ein Gewachsener. Er leitet ein Zentrum für IS-Rückkehrer, forscht über islamistische Bewegungen an der Radboud-Universität Nijmengen, ist das Gesicht der neuen muslimischen Generation in Belgien. Das Problem Radikalisierung müsse man von Fall zu Fall behandeln, denn die Rückkehrer seien nach wie vor stark von ihrer Idee überzeugt.

"Es gab eine Reihe an falschen Entscheidungen, die zu dieser hohen Radikalisierungsrate geführt haben", hält der investigative Journalist Guy Van Vlierden fest. Seit Jahren beschäftigt er sich von der Kleinstadt Asse aus mit diesem Phänomen: Belgien, das geteilte Land, sei schon immer ein Dreh- und Angelpunkt für Islamisten gewesen, es liege vorteilhaft zwischen Nachbarn wie den Niederlanden, Frankreich und Deutschland und unweit von Großbritannien.

"Erzeugt viel Hass unter moderaten Muslimen"

Antiterrorstrategien gebe es wohl, aber diese würden nicht öffentlich gemacht, denn worauf die Behörden hinarbeiten, sei das Überraschungsmoment, merkt Van Vlierden an. "Was die Präventionsmaßnahmen angeht, habe ich aber meine Zweifel", kritisiert der Journalist. Viele Regierungsentscheidungen seien mehr hemmend als fördernd, wie zum Beispiel das Kopftuchverbot an Schulen. Van Vlierden sagt: "Das erzeugte viel Hass unter den moderaten Muslimen."

Peter Calluy, ehemaliger Sozialarbeiter aus Boom, einer Kleinstadt südlich von Antwerpen, kannte diese gesellschaftlichen Gräben schon lange bevor sie für die Behörden interessant wurden. "Es war 2004, und ich traf einen jungen Mann hier in Boom, der versuchte, jüngere Kinder mit islamistischen Parolen zu vereinnahmen. Er sagte ihnen, dass Belgier Ungläubige seien." Der Sozialarbeiter schritt ein, führte hitzige Gespräche mit dem hasserfüllten Teenager, versuchte die jüngeren zu schützen. Calluy sagt: "Ich wandte mich an Medien, Behörden, Parteien, sogar Spitzenpolitiker – keiner reagierte. Der Gedanke, dass junge Muslime sich radikalisieren, war damals eine Art Tabuthema."

"Der Gipfel ist noch lange nicht erreicht"

Der junge Mann aus Boom war niemand Geringerer als der Jihadistenführer Fouad Belkacem alias Abu Imran, der Jahre später zum prominenten Kopf von Belgiens mächtigster Jihadistenformation Sharia4Belgium aufstieg. Der Staat setze immer noch auf veraltete Gesetze, die Religionen zu sehr schützen. Man wolle niemanden verärgern. Durch seine Kritik verlor Calluy letzten Endes seinen Job; nur der rechtsnationale Vlaams Belang schenkte ihm Gehör.

Was bleibt, ist ein ungutes Gefühl, sagt AlDe'emeh. "Wir befinden uns am Fuße eines Berges, und der Gipfel ist längst nicht erreicht", sagt er und warnt vor Anschlägen in Europa. "Wichtig ist jetzt, dass wir aus den müden Menschen gewachsene Menschen machen – so wie bei mir." (Toumaj Khakpour aus Brüssel, 6.10.2015)