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Massaker der Illusionen: "Die Japaner haben sich ordentlich ins Zeug gelegt. Aber wozu? Um reich zu werden? Von wahrem Reichtum ist nicht viel zu merken. Die Leute haben nicht genug Wohnraum, die Landschaft ist verschandelt, wohin man auch blickt, die Züge sind (...) vollgestopft mit Menschen, wie man es Tieren beim Transport nicht antun würde": Ryu Murakami.

Foto: Bruno Ehrs / Corbis

Über den Roman In der Misosuppe von Ryu Murakami steht in einem deutschen Literaturblog zu lesen, er sei "ein Panoptikum der japanischen Gesellschaft: laut, schrill und unerbittlich." Diese Aussage gibt in Kürzestform das gängige Klischee wieder, das europäische Massenmedien von dem fernöstlichen Land verbreiten.

Das Gegenteil trifft zu: Japan ist ruhig, schrilles Verhalten, schrilles Outfit, schrille Farben werden meist vermieden, im Zusammenleben ist man konformistisch und harmoniesüchtig. Volle Lautstärke hört man nur in Pachinkohallen, dort allerdings wirklich voll.

Schrill daher kommen die paar Freizeit-Cosplayer in Shibuya oder Harajuku, auf die sich europäische Kameras richten, und die Komiker in den Fernsehshows. Unerbittlich – nun ja, unerbittlich ist man, wenn es um die Einhaltung von Regeln geht. Mit ein Grund für die hohe Selbstmordrate, denn nicht jeder ist in der Lage, dem Konformitätsdruck standzuhalten.

Unerbittlichkeit

Die Bücher und Filme von Ryu Murakami spiegeln die Gesellschaft nicht wider. Eher malen sie sich und dem Publikum das aus, was in Japan weitgehend fehlt. Sie tun es nicht auf freundliche Weise, sondern – hier ist das Wort angebracht – mit einer gewissen Unerbittlichkeit, vielleicht auch mit einem Quäntchen Bosheit, die notwendig ist, um dem Bedrückenden der sozialen Wirklichkeit etwas entgegenhalten zu können. Was entgegenhalten? Exzessive, aggressive, unverhüllte, exhibitionistische, perverse, destruktive, freiheitsliebende Gesten, Geschichten, Verhaltensweisen.

Freundlich ist der andere Murakami, Haruki mit Vornamen, außerhalb Japans viel bekannter als sein Namensvetter – zu Hause sind beide seit Jahrzehnten fixe Größen der Kulturszene. Haruki, 1949 geboren, veröffentlicht Bücher seit 1979, wurde aber erst mit Naokos Lächeln (1987) zum Bestsellerautor. Der drei Jahre jüngere Ryu trat drei Jahre früher als sein Kollege literarisch hervor und erhielt für seinen Erstling Blaue Linien auf transparenter Haut den Akutagawa-Preis.

Harukis Genre-Spezialität ist die Fantasy, während Ryu von jeher zum Horrorgenre neigt. Es deutet alles darauf hin, dass sich Haruki beim Schreiben in seine Figuren verliebt; auch die Bösewichter wirken in seinen Büchern meistens sympathisch. Ryu hingegen hat jede Menge abstoßender Typen geschaffen, bis hin zu menschlichen Monstern, die vor keiner Untat zurückschrecken.

Dass die Lektüre dann trotzdem immer wieder Einblicke in die ganze Vielfalt der menschlichen Psyche gewährt, ist eines der erstaunlichen Resultate seiner Schreibkunst. Nicht Sympathie stellt sich ein, sondern eher ein Erschrecken über sich selbst oder wenigstens über das, wozu unsereins fähig ist.

Die Geschichten Ryu Murakamis inszenieren Sadomaso-Spiele, sie führen uns ins japanische Rotlichtmilieu (das in der Wirklichkeit einen mächtigen, wenngleich relativ gesitteten, Industriezweig darstellt) und in den Medienbetrieb, den der Autor und Regisseur bestens kennt, aber auch, wie der autobiografische Roman 69, in Ryus persönliche Vergangenheit, die durch Politisierung und den Siegeszug der Popkultur mit ihren spezifisch japanischen Ausprägungen – Manga, Animé, heimische Popmusik – geprägt ist.

Der jetzt von Ursula Gräfe ins Deutsche übersetzte, in Japan 1980 erschienene Roman Coin Locker Babys kann als sein Hauptwerk gelten. Dieses Buch vereinigt alle Stärken und Charakteristika des Autors (dazu vielleicht auch die eine oder andere Schwäche). Was sich in Coin Locker Babys besonders schön nachvollziehen lässt, ist der Katastrophismus, den Ryu pflegt und in zahllosen Szenen umsetzt. Eine Katastrophe ist schon die Geburt der beiden Protagonisten, die mehr als jedes andere Werk der Weltliteratur das Prädikat "Antiheld" verdienen.

Kiku und Hashi, so heißen sie, sind zwei jugendliche Antisupermänner, die auf nichts als Rache sinnen, selbst dann, wenn sie glauben, Gutes zu tun. Sie wurden 1972 in Yokohama in Bahnhofsschließfächern ausgesetzt, wie viele andere Babys in jenen Jahren und bis heute. Diese grausame Art, sich störender Menschenwesen zu entledigen, scheint eine japanische Spezialität zu sein. Ich erinnere mich an einen Fall vor einigen Jahren, als man in Shinjuku, einem der belebtesten Stadtteile Tokios, in einem Schließfach ein totes Neugeborenes fand, an dem noch ein Stück vom Nabel hing.

Kiku und Hashi haben, anders als die meisten ihrer Leidensgenossen, überlebt, aber wirklich überwinden können sie das Trauma bis zum bitteren Ende nicht. Coin Locker Babys ist ein Beispiel dafür, wie Ryu drängende, ihm persönlich nahegehende Probleme und Verhärtungen der Gesellschaft aufgreift, um sie im irrealen Raum der Literatur bis zum Wahnwitz weiterzuspinnen, zu übersteigern und schließlich zur Explosion zu bringen.

Er tut das mit einer Art Genüsslichkeit, mit einer schrankenlosen Spiel- und Fabulierfreude, ohne Ungereimtheiten und Unwahrscheinlichkeiten zu meiden. Im Actionfilm ist solches Outrieren ja gang und gäbe, da werden die Extreme ein ums andere Mal überboten. Von jeher empfänglich für die Ästhetik des Genrefilms, hat Ryu Murakami das Literaturgenre des Actionromans erfunden.

Allerdings sind seine Bücher eben keine Filme. Hier und da blinken Ironie und Humor auf, und die Katastrophen, die einander auf dem Fuß folgen, erinnern mehr an alte Slapstickfilme, an Komödien, die das Absurde feiern. Als hätte sich Charlie Chaplin in ein Hollywoodstudio verirrt, das gerade einen Actionfilm unter Aufwendung modernster technischer Mittel produziert.

Rasanter Rhythmus

Aber nein, so liebenswürdig wie Charlie ist Ryu dann doch nicht. Seine Gesellschaftsdiagnose ist unerbittlich, und allein diese Tatsache verhindert, dass sich seine Bücher in dem Maßstab verkaufen, wie es bei Harukis Produkten der Fall ist. Die Erzählmaschine von Coin Locker Babys läuft in rasantem, unermüdlichem Rhythmus, so gut wie ohne Pausen. Dabei kommt es notgedrungen zu Unwahrscheinlichkeiten und Ungereimtheiten – würde man sagen, wollte man realistische Ansprüche an den Roman stellen.

Das sollte man nicht tun, denn Giftghettos mit einer halb subkulturellen, halb kriminellen Fauna hat es in Tokio nie gegeben. Ryus Stadt in der Stadt erinnert eher an die Hure Babylon, wie sie Fassbinder in seiner Interpretation von Berlin Alexanderplatz zeigte.

Die Ungereimtheiten und Unwahrscheinlichkeiten werden austariert durch die Sorge des Autors um Stimmigkeit im Detail. Denn für sich genommen sind alle Episoden genau recherchiert, Ryus Wissen auf technischen, sportlichen, biologischen, toxologischen und anderen Fachgebieten ist geradezu stupend. So entstehen in einem fort Realitätseffekte, die aus dem rasenden Infrarealismus, den man beim Lesen genießen kann, hervorzüngeln und uns immer wieder vor die Frage stellen, in welcher Welt wir eigentlich leben, auch heute noch.

Ein Gemetzel

In Japan wurde die "Antibabypille" nach endlosen Bedenken und Diskussionen erst 1999 gesetzlich erlaubt, sie ist bis heute in diesem Land nicht sehr verbreitet. Lieber treibt man ab, jährlich etwa 300.000 Föten – ein Gemetzel! Dem Vernehmen nach hat sich in früheren Jahren die Lobby der Abtreibungsdoktoren gegen die Einführung der Pille gewehrt.

Ein Roman wie Coin Locker Babys ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Und was das Giftghetto betrifft, das in Ryus Fiktion durch die Verseuchung eines Stadtteils mit Chlor entstanden ist, so wird man heute unweigerlich an Fukushima denken. 1995 wurde die japanische Gesellschaft durch den Giftgasanschlag einer religiösen Sekte in der U-Bahn von Tokio geschockt. Haruki Murakami schrieb damals eine zweibändige Dokumentation auf der Grundlage von Interviews mit Opfern, aber auch mit Sektenangehörigen, und noch sein Roman 1Q84 zeigt, wie tief die Spuren sind, die jenes Ereignis im Bewusstsein des Autors hinterlassen hat.

In Kenzaburo Oes Roman Chugaeri, 1999 erschienen, aber schon vor 1995 begonnen, gibt es Parallelen zum Giftgasanschlag, und noch in seinem bisher letzten Roman Sayonara, meine Bücher lässt Oe zwei alte Herren darüber räsonieren, wie man Tokio am besten zerstören könnte. Weshalb dieses Fasziniertsein namhafter Autoren dieses scheinbar so friedlichen Landes von der totalen Destruktion?

Coin Locker Babys ist im Grunde genommen eine literarische Fantasie von der Zerstörung der Megastadt, ausgehend von der realistischen Feststellung des menschenfeindlichen Alltagslebens, das sie hervorgebracht hat. In Ryus Roman Das Casting findet sich der schlichte, aber treffende Kommentar: "Die Japaner haben sich ordentlich ins Zeug gelegt. Aber wozu? Um reich zu werden? Von wahrem Reichtum ist nicht viel zu merken. Die Leute haben nicht genug Wohnraum, die Landschaft ist verschandelt, wohin man auch blickt, die Züge sind morgens immer noch so vollgestopft mit Menschen, wie man es Tieren beim Transport nicht antun würde, aus Angst, sie könnten krepieren."

Zwei- oder dreimal taucht in Coin Locker Babys die Fantasie auf, unser ganzes Leben könnte sich in einem Schließfach abspielen. (Leopold Federmair, Album, 4.10.2015)