Alle ins Boot holen – darum geht es bei der Familientherapie.

Foto: karen glistrup

Die Dänin Kirstin Glistrup befasst sich seit Jahren mit diesem Thema.

Foto: karen glistrup

Wenn Eltern in seelische Krisen geraten, sind auch ihre Kinder betroffen. Die Fragen, was man Kindern sagen soll, wie viel ihnen guttut und wie man solche Gespräche führt, fordern oft heraus. Dennoch ist es wichtig und notwendig, über das Geschehen in der Familie zu sprechen. Nur so können die Kinder mit der Situation umgehen.

Expertin für dieses schwierige Thema ist die Dänin Karen Glistrup – sie ist Psychotherapeutin (Schwerpunkt: Paar- und Familientherapie), Sozialarbeiterin und Buchautorin ("Was ist bloß mit Mama los? Wenn Eltern in seelische Krisen geraten"). Für einen Vortrag, veranstaltet von der Internationalen Gesellschaft für Beziehungskompetenz in Familie und Organisation, und ein zweitägiges Seminar weilt sie derzeit in Wien.

Tabu aufbrechen

"Wir alle sind in einer Zeit aufgewachsen, in der es unüblich war, über psychische Probleme zu sprechen. Auch haben wir geglaubt, nicht darüber zu sprechen sei das Beste für unsere Kinder", sagt Glistrup. Heute wisse man längst, dass das Gegenteil der Fall ist.

Sobald ein Elternteil Hilfe bekommt, ist das psychische Leiden kein Tabu mehr. Bis dahin ist es zwar oft ein langer, qualvoller Weg (das müsste nicht immer so sein), aber allein ein offenes Gespräch mit Kindern und Partner kann vieles erleichtern. Nicht zuletzt lernen so Kinder auch, dass nicht sie die Schuld am derzeitigen Zustand der Eltern tragen.

Viele falsche Bilder

Aus ihrer täglichen Erfahrung berichtet Glistrup, dass Kinder von Betroffenen immer extrem neugierig und interessiert sind, was denn mit den Eltern los ist. Sie wollen die Gründe wissen, das Warum. Auch wenn es nicht immer einfache Erklärungen gibt: Das Wichtigste sei, offen darüber zu sprechen – auch deshalb, weil sonst viele falsche Vorstellungen kursieren.

"Wir müssen uns fragen: Was wissen die Kinder über psychische Erkrankungen, und was wissen wir überhaupt selbst?", sagt Glistrup. Problematisch sei, dass Kinder und nicht wenige Erwachsene oft nur ein sehr diffuses Bild von psychischen Erkrankungen haben.

Sehr oft ist dieses durch die Medien vermittelt, nicht selten in Zusammenhang mit Gewaltverbrechen: "Der Mann hat vier Kinder getötet – er war psychisch krank", heißt es dann. Außerdem werde "psychisch krank" im kindlichen Sprachgebrauch mit "verrückt" gleichgesetzt, jedenfalls mit "abnormal" und "anders als die anderen". Diese Vorurteile und falschen Vorstellungen gelte es zu durchbrechen, so die Expertin.

Weit verbreitet

Glistrup berichtet, dass psychische Erkrankungen in der Familie in ausnahmslos jeder Schulklasse thematisiert werden sollten. Schließlich säßen in jeder Klasse "mindestens drei, vielleicht aber auch fünf oder acht" Kinder von psychisch kranken Eltern – das zeigt allein schon die Statistik, vielmehr noch ihre tägliche Erfahrung.

Immer wieder fragen Lehrer, auf welche Zeichen sie achten sollen, wie sich persönliche Schwierigkeiten bei ihren Schülern äußern. Das zu verallgemeinern ist schwierig: Neben auffälligen Verhaltensweisen wie Wut, Angst und Gewalt gibt es viel unscheinbarere, etwa "Faulheit", aber auch Perfektionismus oder das Annehmen einer Führungsrolle. Hier gelte es, zu fragen, keine pauschalen Diagnosen zu stellen, sondern zu hinterfragen, warum sich das Kind so verhält.

Die Probleme aussitzen funktioniert übrigens nie, wie Glistrup betont: "Früher oder später wird die Erkrankung immer zum Thema – deshalb sollte man nicht warten, darüber zu sprechen." Mit einem frühen Gespräch ließe sich das Tabu durchbrechen, und die sonst meist hilflosen Kinder könnten verstehen, was in den Eltern vorgeht.

Fünf Fehlvorstellungen

Glistrup identifiziert fünf geläufige Fehlvorstellungen, die wir am besten alle sofort über Bord werfen sollten.

1) Kinder mit psychischen Leiden senden eindeutige Signale aus. Glistrup: "Nein, das tun sie nicht immer. Jeder geht anders mit Problemen um. Man muss genau hinsehen, aber auch nachfragen: 'Wie geht es dir wirklich?'"

2) Es ist ein bestimmtes Alter der Kinder nötig, um mit ihnen über psychische Probleme zu reden. "Es ist nie zu früh, mit Kindern über die Wirklichkeit, in der sie leben, zu sprechen. Selbst kleine Kinder spüren, wenn etwas nicht in Ordnung ist", sagt Glistrup.

3) Stellt man die richtigen Fragen, öffnen sich selbst verschlossene Kinder. "Bei Fragen, die sie nicht beantworten können, werde unsichere Kinder noch unsicherer. Auch stellen sie selten eigene Fragen, wenn sie merken, dass Erwachsene sich schwer mit dem Thema tun."

4) Kinder sollen eine glückliche Kindheit ohne Sorgen haben. "Im Allgemeinen natürlich ja, doch Kinder wachsen durch das Überwinden von Schwierigkeiten, werden stärker. Überbehütete Kinder hingegen sind extrem verletzlich."

5) Kinder sind nur in die Themen involviert, von denen wir ihnen erzählen. "Falsch. Gesunde Kinder merken, wenn etwas nicht stimmt, sie sind sensibel und haben noch Antennen, die wir Erwachsenen nach und nach vielleicht verlieren. Wenn die Kleinen gesund bleiben sollen, brauchen sie jemanden, mit dem sie darüber sprechen können."

Selbstwert reparieren

Die dominanten Gefühle bei Kindern psychisch kranker Eltern sind Scham, Schuld, Schmerz und Einsamkeit. Allesamt Gefühle, über die kaum jemand spricht. Doch nur durch das darüber sprechen kann man sie relativieren, verstehen und schlussendlich überwinden. Verschweigen hingegen macht es schlimmer, verursacht zwei starke Gefühle auf beiden Seiten: Sich falsch fühlen und Scham. Beides Gefühle, die tief mit dem Selbstwert und mit der Frage "Wer bin ich?" verbunden sind.

Und gerade das Selbstbild spielt eine Rolle bei fast allen psychischen Erkrankungen, schließlich macht es macht einen wesentlichen Unterschied, ob man verinnerlicht hat: "Etwas stimmt nicht mit mir, ich kann nichts dagegen machen", oder ob man die Überzeugung hat: "Ich bin ganz in Ordnung und werde es schon schaffen." Um zu dieser Einstellung zu gelangen, hilft es schon, offen über alles zu reden. (Florian Bayer, 2.10.2015)