Bild nicht mehr verfügbar.

Der Mann entdeckt es gleich, das klapprige Tier, das mit gesenktem Kopf immer am selben Fleck steht ...

Foto: dpa / Patrick Seeger

Ilse Helbich, geboren 1923 in Wien, ist eine österreichische Publizistin und Schriftstellerin. Helbich wuchs in Wien auf, studierte Germanistik und war als Verlagskauffrau tätig.

Sie war über drei Jahrzehnte verheiratet und ist Mutter von fünf Kindern. Sie war für verschiedene Tageszeitungen und den ORF tätig, für den sie zahlreiche Radiosendungen verfasste. Ilse Helbich wandte sich erst Ende der 1980er-Jahre der Prosa zu. Von ihr erschienen u. a. "Das Haus" (2009), "Fremde" (Erzählungen, 2010) und zuletzt "Vineta" (2013). Ilse Helbich lebt in Schönberg am Kamp und in Wien.

Foto: privat

An jedem Werktag stieg der Mann in den Pendlerzug, der ihn nach der Bahnfahrt und fünf Stationen mit der U-Bahn, schließlich noch sechs oder sieben Minuten Fußweg pünktlich zur gewohnten Arbeit an seinen Schreibtisch bringen würde. Die Zugfahrt nach der Aufsteh- und Frühstückshektik zwischen den beiden zappeligen Kindern und der übermüdeten, nervösen Frau ist angenehm ruhig. Endlich vertieft sich der Mann in seine Morgenzeitung und schaut nach einer scharfen Zugbiegung, die er bis in die Hüften spürt, wie gerufen auf und zum Fenster hinaus, und schon erscheint die zu zertrampelter Erde verkommene Weide, auf der immer das weiße Pferd steht. Der Mann entdeckt es gleich, das klapprige Tier, das mit gesenktem Kopf immer am selben Fleck steht, manchmal muss der Mann sich ein wenig anstrengen, damit er das alte Tier im spärlichen Schatten der schütteren Bäume am oberen Rand der Umzäunung wiederentdeckt.

Die Frau im offenen Fenster

Jetzt zahlt es sich nicht aus, nochmals in die Zeitung zu schauen, denn gleich darauf zieht sein Zug an dem gelblichen Haus drüben am Hang vorbei. An diesem Haus ist immer das linke Fenster im ersten Stock geöffnet, und dort wartet mit aufgestützten Armen eine Frau, sie sieht seinem Zug entgegen. Auch in den Wintermonaten lehnt die Frau im offenen Fenster, sie trägt dann eine Mütze und hat eine dunkle Jacke oder vielleicht einen Mantel an. Dem Mann ist es, als spüre er im Vorbeigleiten den Blick der Frau durchs Zugfenster auf sich ruhen.

Das geht lange so mit dem weißen Pferd und mit der Frau, es ist eine der vielen winzigen Sicherheiten, die einen leeren Tag punktieren.

Einmal, es ist Frühling, als der Mann wie gewohnt den Blick von der Zeitung hebt, um nach dem Pferd zu sehen, ist der Schimmel nicht da. Gleich darauf lehnt die Frau aber wie sonst auch in ihrem Fenster.

In den folgenden Tagen späht der Mann vergeblich nach dem weißen Pferd. Seine Weide, dieses zertrampelte Stück Erde, bleibt leer.

Die früher so behagliche Zugfahrt wird für den Mann die Zeit einer unbestimmten Angst: So wie das Pferd nicht mehr da ist, wird irgendwann auch die Frau nicht mehr da sein. Als er an einem der nächsten Morgen dort, wo er gerade vorm Einfahren in die Station die Frau an ihrem Fenster stehen sah, seine Tasche packt und aus dem Zug steigt, ist es, als müsste es so sein. Und schon geht er den Weg zum gelblichen Haus hinauf, steht schon vor der Gartenpforte, unwillkürlich bemerkt er, dass das Holztor rissig ist und sein weißer Anstrich verwittert, jetzt erst schaut er hoch und hinauf zu dem Fenster, das jedoch geschlossen ist, aber da steht ja auf der anderen Seite des Gartentors die Frau, seine Frau. Aus der Nähe gesehen ist ihr Gesicht breiter und auch älter, als er sie sich im Zug ausgemalt hat.

Ihre halb zugekniffenen Augen wirken ein wenig schläfrig oder vielleicht wachsam, wie auf der Hut.

Hat sie "Schade" gesagt?

Die Frau hat das Gartentor geöffnet und steht jetzt dicht vor ihm. "Kommen Sie zu mir?", fragt sie, "aber bitte schnell, ich muss gleich zu meinem Zug." Dem Mann gelingt es, etwas zu stammeln von ungenauer Adresse und das Haus suchen müssen. "Schade", sagt die Frau, "ich habe geglaubt, Sie kommen zu mir." Und schaut ihn an und ist gar nicht mehr schläfrig, und vielleicht lächelt sie sogar ein bisschen.

Er steht vor ihr und bringt die Lippen nicht auseinander und ist wie gelähmt von oben bis unten. Die Frau steht noch immer da und sieht ihn an und sagt noch einmal "Sehr schade" und dreht sich dann langsam weg und geht den Weg hinunter, den er gerade heraufgekommen ist; von weitem pfeift schon der Zug, der sie gleich dorthin führen wird, woher er gerade gekommen ist.

Wie benommen geht jetzt auch er zur Station, wo sein nächster Zug in einer Dreiviertelstunde durchkommen wird, er fährt die Strecke, die er auswendig kennt, kommt ins Büro, seine Ausrede wird gleichgültig angehört und abgetan. Er ist ja ein verlässlicher Angestellter. Der Bürotag verläuft wie jeder andere, er vergisst auch nicht, für seine Frau das neue Medikament zu besorgen, das beim Einschlafen helfen soll.

In den kommenden Tagen wagt es der Mann nicht, aus dem Fenster zu schauen, nicht nach dem weißen Pferd und nicht nach der Frau im Fenster. Zwei-, dreimal fragt er sich noch: Hat sie damals wirklich "Schade" gesagt? Mit der Zeit wird aus dem ausdrücklichen Verbot, nach dem weißen Pferd und nach der Frau zu schauen, eine Gewohnheit. Wie selbstverständlich bleiben seine Augen am Zeitungsblatt haften. Als er Wochen oder Monate später einmal doch wie zufällig aus dem Fenster blickt, steht gerade das gelbe Haus da, und alle seine Fenster sind geschlossen, als hätte es die Frau am offenen Fenster niemals gegeben, und es ist richtig so, und der Mann weiß felsenfest, dass es so weitergehen wird. (Ilse Helbich, Album, 3.10.2015)