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90 Prozent der alten Labour-Führungsgarde wollten Jeremy Corbyn nicht. Doch die Basis sah das anders. Bilanz: 150.000 neue Mitglieder.

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Mit einem Appell an "Mehrheitswerte" wie Hilfsbereitschaft, Solidarität und Fairness hat sich der neue Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn den Briten vorgestellt. In seiner programmatischen Rede auf dem Parteitag in Brighton lobte der 66-Jährige am Dienstag die Vielfalt Großbritanniens, dessen diverse Bevölkerungsgruppen aber einig seien in ihren Werten: "Dafür liebe ich dieses Land."

Seiner Partei versprach der Chef eine offene Debattenkultur als Teil einer "freundlicheren Politik und mitfühlenden Gesellschaft". Führung bestehe für ihn vor allem aus Zuhören.

Für den bisher der breiteren Öffentlichkeit eher Unbekannten geht es seit seinem Erdrutschsieg unter Mitgliedern und Sympathisanten der Arbeiterpartei darum, sich als glaubwürdiger Oppositionsführer gegen Premier David Camerons Konservative zu präsentieren. Die 45-minütige Rede bot dafür einen Ausgleich für das Dauerfeuer der Kritik, mit dem die konservativen Londoner Medien den Vertreter des linken Parteiflügels belegen. Die Unterstellung lautet, der Monarchiekritiker und Pazifist Corbyn leide an einem Patriotismus-Defizit – und das in einem Land, das der Königin und dem Militär überwiegend unkritisch gegenübersteht.

Vermeidbare Fehler in den ersten Amtstagen leisteten dem Eindruck Vorschub: Corbyn sang bei einem Gedenkgottesdienst für Weltkriegsveteranen nicht die Nationalhymne "God save the Queen" mit. Auch zögerte er auf die Frage, ob er zum Kriegsgedenken im November das obligatorische, von Veteranenverbänden verkaufte Mohnblumen-Abzeichen tragen werde.

Solche vermeintlichen Kleinigkeiten würden von unentschiedenen Wählern genau registriert, hat die Labour-nahe Demoskopin Deborah Mattinson beobachtet. In ihrer Fokusgruppe für den Guardian wurden Sympathien deutlich: Corbyn sei "prinzipientreu, anständig, ehrlich und glaubwürdig". Im Zeitalter tiefer Desillusionierung erreicht der neue Labour-Chef damit Traumwerte. Hingegen trauen ihm Wechselwähler bei Wirtschaftskompetenz und Einwanderung nicht über den Weg. Einer Umfrage des YouGov-Instituts zufolge verorten die Briten den Linken Corbyn viel weiter von der politischen Mitte entfernt als Premier Cameron oder den Rechtspopulisten Nigel Farage.

"Ehrliche Politik"

Corbyns Slogan "Klare Sprache, ehrliche Politik" ziert das Rednerpult in Brighton. Dabei distanzierte er sich von der Amerikanisierung britischer Politik, die seine Vorgänger Tony Blair und Gordon Brown vorangetrieben hatten.

Auch inhaltlich ist der Abstand zur bisherigen Linie der Sozialdemokraten unübersehbar. Corbyn und sein engster ideologischer Verbündeter, der finanzpolitische Sprecher John McDonnell, halten die Sparpolitik der Tories für gescheitert. Die Austerität sei "keine ökonomische Notwendigkeit, sondern politisch gewollt", betonte McDonnell am Montag. Dem Defizit will er mit höheren Unternehmenssteuern und härterem Vorgehen gegen Steuervermeider beikommen, Kürzungen im Sozialetat hingegen rückgängig machen.

McDonnell setzt auf "aggressives Wachstum", notfalls mit staatlichen Konjunkturanreizen. Der unabhängigen Zentralbank will er neben der Inflationsbekämpfung auch Parameter wie Wachstum und Beschäftigung vorgeben. Und er hat sich ein Gremium von Beratern zugelegt; ihm gehören angesehene Ökonomen wie Thomas Piketty, Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und die italienische Professorin Mariana Mazzucato an.

Die neue Parteiführung kann sich über 160.000 neue Mitglieder seit der verlorenen Wahl im Mai freuen. Hingegen bleibt in Brighton die Skepsis bisher führender Parteifreunde unübersehbar; 90 Prozent der Labour-Unterhausabgeordneten wollten Corbyn nicht als Vorsitzenden haben. (Sebastian Borger aus London, 29.9.2015)