Viv Albertine und ihre Gitarre. In ihrer Autobiografie "Clothes, Music, Boys" erzählt sie unter anderem von der Selbstbehauptung als Künstlerin.

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STANDARD: Ihre Erinnerungen an Ihre Zeit in der ersten Frauen-Punkband The Slits im London der 1970er-Jahre fallen in Ihren Memoiren "Clothes, Music, Boys" sehr detailreich aus. Hatten Sie damals Zeit, ein Tagebuch zu führen?

Albertine: Nein, natürlich nicht. Wenn man diese Art von Leben führt, hat man dazu keine Zeit. Wir haben auch keine Fotos gemacht und schon gar keine Selfies. An das, was emotional wichtig für mich war, konnte ich mich erstaunlich gut erinnern. Als ich vor einiger Zeit das Haus meiner Mutter räumen musste, weil sie in eine betreute Wohnung gezogen ist, habe ich viele Dinge gefunden wie etwa das Ticket zu meinem ersten Konzert, das im Buch abgebildet ist.

STANDARD: Sie waren mit den Sex Pistols befreundet, ein Auftritt von Johnny Rotten hat Sie nachhaltig beeindruckt, weil er nicht singen konnte, das auch gar nicht vorgab und auf der Bühne einfach "er selbst" war. Wer ist im Rückblick wichtiger für Sie gewesen: Johnny Rotten oder Patti Smith

Albertine: Patti Smith, weil sie selbst eine Frau ist. Das Cover ihres Albums "Horses" war immens wichtig für mich, weil sie darauf genauso aussieht, wie ich mich damals fühlte. Als Frau so selbstbewusst und wild aufzutreten, das war damals etwas Besonderes. Wir waren ja noch sehr beeinflusst von der Moral der 1950er-Jahre, als es noch nicht vorgesehen war, als Frau Spaß am Sex zu haben.

STANDARD: Sie schreiben über die Punkszene, sie habe aus "psychopathischen, nihilistischen Extremisten" und "Karrieristen" bestanden. Es fällt mir schwer, Sie zu einer der beiden Kategorien zu zählen.

Albertine: (lacht) Ich war zu sensibel. Die waren alle sehr schwarz-weiß in ihren Meinungen, ich habe da nie so gut hineingepasst, war nicht dogmatisch genug. Leute wie Vivienne Westwood und Malcolm McLaren waren ja gebildet, und ich war weder gut genug ausgebildet noch intelligent genug, um mich auf eine Diskussion mit ihnen einzulassen.

STANDARD: Sie schreiben: "Punk war die einzige Zeit, in der es akzeptabel war zu sagen, was man denkt." Glauben Sie das immer noch?

Albertine: Ja, im Punk war das möglich. Mit Margaret Thatcher in den 1980er-Jahren und der allgemeinen Amerikanisierung hat sich das sehr geändert. Auf Twitter jedenfalls darf man seine Meinung nicht sagen. (lacht) Wir leben in einer sehr vorsichtigen Gesellschaft. Ich halte diese Entwicklung schwer aus. Aber im Ernst: Ich habe vielleicht drei Freunde, mit denen ich offen spreche. Ich führe ein sehr ruhiges Leben.

STANDARD: Sind Sie Feministin? Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es recht schwierig geworden sei, "mit anderen Frauen nicht übereinzustimmen, ohne gleich Antifeministin genannt zu werden".

Albertine: Ja, ich bin Feministin. Und ja, das habe ich geschrieben, aber ich meine damit nicht die heutige Zeit. Eine Zeitlang konnte man ja nicht Lippenstift tragen und gleichzeitig Feministin sein, das ist heute anders. Feminismus meint für mich die Gleichberechtigung von Frau und Mann. So gesehen muss jeder halbwegs intelligente Mensch FeministIn sein.

STANDARD: Sie hatten in den 1970er-Jahren eine Abtreibung und haben später mit ihrem Ehemann jahrelang versucht, schwanger zu werden. Wie wichtig ist Mutterschaft für Sie?

Albertine: Ich hatte unzählige In-vitros, bevor ich in meinen Enddreißigern meine Tochter bekam. Diese Zeit war die schlimmste in meinem Leben, schlimmer als meine Krebserkrankung. Ich bin sehr froh, Mutter zu sein. Aber ich glaube, ich werde für meine Tochter nie so wichtig sein wie meine Mutter für mich – hoffe ich jedenfalls. (lacht) Ich habe so viele Fehler gemacht, bin, nachdem sich die Slits 1981 getrennt hatten, zurück zu meiner Mutter gezogen. Ich glaube, meine Tochter ist stärker als ich und wird das nicht nötig haben.

STANDARD: Sie waren 22, als Sie Ihre erste Gitarre kauften und als Autodidaktin die Gitarristin der Slits wurden. Sie schreiben: "Es ist nie zu spät." Stimmt das noch immer?

Albertine: Heute bin ich 60, und ja, das stimmt noch immer: Es ist nie zu spät, sich neu zu erfinden. Das dauert dann drei bis fünf Jahre. In den 1980er-Jahren bin ich Filmemacherin geworden, dann Songwriterin, habe ein Buch geschrieben, schreibe gerade an dem nächsten …

STANDARD: … und waren Hauptdarstellerin in Joanna Hoggs Film "Exhibition".

Albertine: Das würde ich nie mehr machen! Ich schätze Joanna sehr, und es ist ein wunderbarer Film geworden. Ich glaube, es ist gut, eine Frau in ihren 50ern auf der Leinwand zu sehen, auch nackt, aber ich war in gewisser Weise die Farbe der Künstlerin. Ich möchte in Zukunft immer die Künstlerin sein, nicht das Material. (Tanja Paar, 29.9.2015)