Vuk Radoičić, 19 Jahre alt: "Ich brauche keine persönliche Erfahrung als Flüchtling, um in diesem Fall mit Empathie zu reagieren."

Foto: Mascha Dabic

Provisorische Flüchtlingsunterkunft gegenüber dem Belgrader Hauptbahnhof.

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Der Park neben dem Belgrader Busbahnhof war den ganzen Sommer über ein Sammelpunkt für Flüchtlinge, größtenteils aus Syrien, die sich hier Tag und Nacht im Freien aufhielten. Inzwischen wurden Zelte aufgestellt, und es gibt auch Informationsstellen, die den Flüchtlingen Beratung anbieten. DER STANDARD hat mit dem freiwilligen Helfer und Philosophiestudenten Vuk Radoičić (19) gesprochen.

STANDARD: Wer hat die Hilfe und Erstversorgung hier organisiert?

Radoičić: Es handelt sich um eine Kooperation zwischen B92 und der Stiftung Trag. Wir arbeiten auch mit dem Beratungszentrum Miksalište hier in der Nähe zusammen.

STANDARD: Aber heute ist das Zentrum Miksalište geschlossen?

Radoičić: Ja, weil der Grundstein für das Großprojekt "Belgrad am Wasser" gelegt wurde und in Zusammenhang damit die Straßen polizeilich gesperrt sind. Deshalb konnten wir heute den Menschen keine Kleidung bringen. Es ist ein problematisches Symbol, das die Stadt damit aussendet, denn dadurch wird klar, wie die Prioritäten gesetzt werden. Die Flüchtlinge zählen weniger als die Feiern für ein Großprojekt.

STANDARD: Wie kam es dazu, dass Sie hier als Freiwilliger mithelfen?

Radoičić: Im Fernsehen wirkt das alles nicht real. Als ich aber eines Tages hier am Park vorbeikam, sah ich, was hier los war, und dann wurde mir schlagartig klar, dass das alles wirklich passierte. Und da wollte ich helfen. Als ich dann auf B92 einen Aufruf sah, meldete ich mich sofort als Freiwilliger.

STANDARD: Was tun Sie hier konkret?

Radoičić: Zunächst hatte ich sechs- bis siebenstündige Schichten, jeden Tag, das war alles noch improvisiert. Inzwischen haben sich mehr Leute gemeldet, und jetzt dauern die Schichten etwa drei oder vier Stunden, je nachdem. Ich beantworte Fragen. Die Leute wollen wissen, welche Grenzen offen sind und wo man Hilfe bekommt.

STANDARD: Wie kommunizieren Sie mit den Flüchtlingen?

Radoičić: Es ist immer ein Dolmetscher anwesend, für Arabisch und für Farsi.

STANDARD: Was können Sie den Leuten außer Information bieten?

Radoičić: Wir bringen die Leute in das nahe gelegene Zentrum Miksalište, wo sie Kleidung und Essen bekommen. Manche bringen wir zur Post oder zu Western Union, damit sie Geld abheben können, das ihnen ihre Familien schicken. Wenn neue Familien ankommen und wir sehen, dass die Kleinkinder barfuß sind, organisieren wir sofort Schuhe für die Kinder. Außerdem versuchen wir sicherzustellen, dass den Leuten keine überteuerten Fahrscheine oder Dienstleistungen angedreht werden.

STANDARD: Gibt es also Versuche, aus der Notlage der Flüchtlinge Profit zu schlagen?

Radoičić: Ja, leider, immer wieder. Es kommen Leute, die versuchen, den Flüchtlingen Fahrscheine um 100 Euro anzudrehen, die aber hier in Wirklichkeit nur wenige Dinar kosten. Wir bemühen uns, solche Geschäfte zu verhindern, einmal mussten wir sogar die Polizei rufen. Vor ein paar Tagen hat ein Taxifahrer einer Familie 40 Euro für eine Fahrt innerhalb der Stadt abgeknöpft. Es ging darum, eine Familie mit kleinen Kindern von hier wegzubringen, weil es stark geregnet hat.

STANDARD: Wie reagieren die Menschen sonst in Serbien oder in Belgrad auf die Flüchtlingssituation?

Radoičić: Ich bin positiv überrascht, weil sich so viele Freiwillige melden und viele Menschen Kleidung, Essen und Schuhe spenden. Die Menschen haben sich selbst organisiert, und zwar aus der gesamten Region, wir haben sogar Lieferungen aus Sarajevo entgegengenommen. Ich hoffe, dass diese positive Stimmung anhält, denn die Situation wird ja noch Monate andauern oder länger. Es enttäuscht mich allerdings sehr, dass manche versuchen, von der Notlage der Flüchtlinge zu profitieren. Aber ich möchte jetzt nicht das Gespräch mit einem negativen Statement beenden. (lacht)

STANDARD: Na gut, dann noch eine Frage: Wie sehen Sie die Situation langfristig?

Radoičić: Ich hoffe, dass manche Menschen hier Asyl erhalten und gut aufgenommen werden und dass diese stereotype Angst verschwindet von wegen, die Flüchtlinge machen unsere Kultur oder unsere Religion kaputt. Es ist enttäuschend, dass manche Staaten wie zum Beispiel Tschechien so gut wie keine Flüchtlinge aufnehmen wollen.

STANDARD: Wie reagieren die Flüchtlinge auf Ihre Hilfe?

Radoičić: Sie freuen sich sehr über unsere Unterstützung und sagen, es gefällt ihnen sehr gut in Serbien.

STANDARD: Trotzdem wollen sie nach Deutschland weiterreisen?

Radoičić: Ja, weil sie darüber informiert sind, dass hier in Serbien der Lebensstandard nicht sehr hoch ist. Sie sehen für sich keine Chancen hier. Einige sind geblieben, weil sie nicht über die kroatische Grenze gekommen sind. Ich hoffe, dass unsere Bevölkerung positiv darauf reagiert, denn wir selbst könnten uns genauso in einer solchen Lage wiederfinden. Beziehungsweise, viele aus unserem Land waren selbst auch Flüchtlinge. Ich bin zwar noch zu jung und habe das zum Glück nicht selbst erlebt, aber man kennt es aus vielen Erzählungen. Ich kann überhaupt nicht begreifen, wie es sein kann, dass manche Menschen keine Empathie entwickeln. Zum Beispiel regnet es heute, wir sind alle nass, aber wenn ich nach Hause komme, kann ich mich heiß abduschen und ins Bett legen. Aber dann denke ich im Bett, meine Güte, diese Leute sind ja noch immer im Regen draußen, manche stehen ohne Geld da, schlafen im Freien. Da brauche ich keine persönliche Erfahrung als Flüchtling, um in diesem Fall mit Empathie zu reagieren. (Mascha Dabić, 30.9.2015)