Gerüchten zufolge soll Stefan Zweig Exhibitionist gewesen sein. Ulrich Weinzierl überprüft in einer lesenswerten Studie, was dran ist.

Foto: Stefan Zweig Centre Salzburg

Wien – Anfang 1954, zwölf Jahre nachdem Stefan Zweig im brasilianischen Exil in den Freitod gegangen war, kolportierte Thomas Mann in einem Brief an einen Berliner Arzt ein Gerücht: "Der weltberühmteste deutsche Schriftsteller der jüngst vergangenen Zeit, Stefan Zweig, soll Exhibitionist gewesen sein. Mir hat er es nicht gestanden, aber in der Intimität weiß man es (…). Höchst sonderbar!", meint Mann, der mit Zweig schon zu dessen Lebzeiten ein eher kompliziertes Verhältnis pflegte.

Die Frage, ob es in Stefan Zweigs Leben wirklich ein brennendes Geheimnis oder gleich mehrere davon gab, versucht der Autor und Zweig-Kenner Ulrich Weinzierl in seinem neuen Buch zu klären, wobei man eher von einer großangelegten Studie sprechen muss. Wäre Weinzierl nicht Weinzierl, hätte aus Stefan Zweigs brennendes Geheimnis (Zsolnay-Verlag) leicht eine weitere der vielen in Mode gekommenen Abhandlungen werden können, die sich aus der Schlüssellochperspektive mit Dingen befassen, die keiner wissen kann oder niemand wissen will. Um Sensationshascherei geht es Weinzierl nicht. Er hat sich lange mit Zweig, den er schätzt, auseinandergesetzt, Essays über ihn geschrieben und Bücher mit Zweig-Texten herausgegeben.

Stefan Zweig, dieser "Psychologe aus Leidenschaft" und Homme à Femmes, der auf Fotos immer ein wenig zurückgenommen und gehemmt wirkt, hat sich öffentlich kaum zu seiner Person geäußert. Auf Bekannte wirkte er verschlossen, Freunden blieb er rätselhaft. Und die Aura des Unbestimmten, des nicht ein für alle Mal Festgelegten, ist es auch, die seine glatten, elaborierten, zuweilen fast lieblichen Texte, in deren Untergrund es heftig rumort, noch heute lesenswert macht.

Die später publizierten Brief- und Tagebucheditionen sprechen eine deutlichere Sprache. So konstatiert Zweig 1913 nach einer seiner zahlreichen Liebschaften im Tagebuch: "Ich pendle zwischen äußerster Scham und äußerster Schamlosigkeit." Und seine erste Frau Friderike schrieb 1930 in einem Brief, "dass Dich kein Mensch – außer mir – wirklich kennt, und dass einmal die blödsinnigsten Sachen über Dich geschrieben sein werden. (….) Dein Schrifttum ist ja nur ein Drittel Deiner selbst, und auch das Wesentliche daraus für die Deutung der anderen zwei Drittel hat niemand erfasst."

Friderike Zweig spielt in Weinzierls Studie, die gewaltige Stoffmengen wälzt und auf einen beeindruckenden Fundus von Sekundärliteratur zugreift, eine wichtige Rolle. 18 Jahre (1920 bis 1938) war sie mit Zweig verheiratet, wobei sie dessen Junggesellenbastion erst nach acht Jahren erotischer Belagerung einnehmen konnte. Sie dürfte in der Zeit,
auf die sich die Exhibitionismus-Vorwürfe beziehen, der Zweig am nächsten stehende Mensch gewesen sein. Zudem prägte und glättete Friderike, die 1971 in den USA starb, das Zweig-Bild lange und durchaus einseitig.

Ein weiteres Kapitel des Bandes setzt sich anhand der einschlägigen Novelle Verwirrung der Gefühle mit einer immer wieder insinuierten Homosexualität Zweigs auseinander. Weinzierls Fazit: Zweig gehörte nicht zur "Gilde". Erst im letzten Drittel des Buches wird dann nach Exhibitionismus-Indizien gefahndet. Weinzierl greift dazu auf den eingangs erwähnten Mann-Brief und auf Äußerungen Benno Geigers (1882–1965) zurück, der als junger Mann mit Zweig befreundet war. Dieser später zum Feind mutierte Freund schrieb in seinen Memoiren: "Er (Zweig) selbst hat mir dies erzählt. Er litt an der Sucht des Exhibitionismus, das heißt, an dem unwiderstehlichen Drang, sich in Anwesenheit eines jungen Mädchens zu entblößen." Zweig habe dafür den Begriff "Schauprangertum" verwendet. Dieses habe er bevorzugt im Schlosspark Schönbrunn praktiziert.

Beinahe erwischt

Den Sätzen Geigers, der als unsicherer Kantonist gilt und mit Dichtwerken wie Also sprach Benno Geiger an die Öffentlichkeit trat, wurde bisher wenig Bedeutung zugemessen, doch Weinzierl stößt in seiner Recherche auf eine Tagebuchstelle aus dem Jahr 1912 (10. September), die sich unmittelbar vor einigen aus dem Diarium herausgerissenen Seiten befindet. Zweig schreibt: "Dann spazieren, Liechtenstein, schaup. Das Object noch zu jung noch ohne tieferes Interesse (…). Dies eigentlich weniger aufreizend, aber mehr gefährlich und wäre zu meiden." In der Abkürzung "schaup.", so Weinzierl, könnte er also liegen jener "Schaupranger". Es gibt weitere Hinweise, denn Zweig mied "es" nicht. Ende Februar 1913 deutet er im Tagebuch stark verklausuliert an, dass er bei einem "Spaziergang mit Hintergedanken in der Dämmerung im kleinen Schönbornpark" beinahe erwischt worden wäre. Die Indizienlage ist relativ dünn, Weinzierl hinterfragt seine These, stützt sie mit Zweig-Lektüren, Zitaten von Freunden des Autors und mit viel psychologischer Literatur, um zum Schluss zu kommen: Stefan Zweig war Exhibitionist. Jedenfalls zeitweilig.

Lesenswert ist diese Studie, die der Person Zweig unerfreuliche Facetten hinzufügt, sein Werk aber um nichts schmälert, weiters durch ihre Auseinandersetzung mit Männer- und Frauenbildern, auch dem des "Kindsweibes". Denn scharf blendet Weinzierl in eine Zeit, in der Exhibitionismus zu Recht kriminalisiert wurde, Pädophilie hingegen – die Fälle Loos und Altenberg umreißt er kurz – als Kavaliersdelikt galt. "Moral ist ihr nichts", ein Zitat Stefan Zweigs über die Kunst, stellt Weinzierl an den Schluss des Textes. Daran, dass es sich lohnt, über gesellschaftliche Doppelmoral nachzudenken, lässt er keinen Zweifel. (Stefan Gmünder, 28.9.2015)