STANDARD: Der Abgasskandal bei Volkswagen wird als der größte Skandal der deutschen Nachkriegsgeschichte gehandelt. Zu Recht?

Müller: Ganz sicher nicht. Ich glaube, wir leben in einer Zeit, in der jedes Thema zum Maximum hochgekocht wird. Auch bei VW verfallen wir in Hysterie. Die Sorgen um Griechenland sind vergessen.

STANDARD: Ist die Aufregung übertrieben?

Müller: Natürlich ist vollkommen klar, dieser Abgasskandal ist ein Skandal, eine Riesensauerei. Das muss geahndet werden und Konsequenzen haben. Das passiert auch. Aber man muss auch die Relationen sehen. Wir hatten sehr viele Skandale in den letzten Jahren, deren Auswirkungen weit größere Dimensionen erreicht haben. Reden wir doch über die Milliardenbetrügereien der Deutschen Bank. Wie viele Vorstände sind daraufhin zurückgetreten? Niemand hinterfragte damals "Made in Germany". Denken wir an die illegalen Waffenlieferungen eines großen Konzerns, womit Menschen in Mexiko und anderen Staaten getötet werden. Was VW betrifft, sollten wir die Kirche mal im Dorf lassen.

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Dirk Müller: "Der Skandal bei VW muss geahndet werden. Doch wir müssen wieder lernen, Dinge in ihre Verhältnismäßigkeit zu setzen."

STANDARD: Kein Desaster also für den Wirtschaftsstandort Deutschland?

Müller: Wir sind es, die ein Desaster daraus machen, indem wir bei diesem Spiel mitmachen. Der Skandal hat ein Gewicht, aber nicht das, das wir versuchen, ihm momentan zuzuschreiben. Wir reden unser Image, unsere eigene Industrie kaputt. Wir müssen wieder lernen, Dinge in ihre Verhältnismäßigkeit zu setzen. Weil in einem Unternehmen Betrügereien gelaufen sind, muss man nicht gleich ganz Deutschland und die gesamte Industrie infrage stellen. Wir übertreiben momentan leider allzu oft allzu gerne.

STANDARD: Wird das Thema in den USA also künstlich aufgebauscht?

Müller: Auch das muss man hinterfragen. Wie wir inzwischen wissen, war die Manipulation der Abgaswerte bei VW in den USA schon seit Monaten bekannt. Just an jenem Tag, als VW in Amerika seinen neuen Passat präsentiert, wird das Thema mit einem Extremaufschrei zum Skandal hochgearbeitet. Just in dem Moment, in dem VW General Motors und Ford frontal in dessen Kerngeschäft angreift. Natürlich kann man darin Zufälligkeit erkennen, man kann aber auch Böswilligkeit unterstellen – beweisen kann man nichts.

STANDARD: Die USA als Vorbild in Sachen Umweltverträglichkeit?

Müller: Es ist Bigotterie, wenn man sieht, dass in den USA die großen SUVs mit den Sechs-Liter-Maschinen verkauft werden. Es ist ein Volkssport von Amerikanern, Autos mit speziellen Rußerzeugern auszustatten, um damit Fußgänger zu malträtieren – das ist legal. Es gibt sogar eine Motorsportart, bei der möglichst viele Abgase erzeugt werden sollen – und ausgerechnet solch ein Land schreit besonders laut auf.

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STANDARD: Mängel bei anderen Autobauern wurden weniger streng geahndet.

Müller: Nochmals, es geht bei VW um geschönte Abgaswerte, nicht um defekte Zündschlösser wie bei General Motors, klemmende Gaspedale wie bei Toyota oder versagende Bremssysteme, Mängel, die zu Todesopfern führten. Bis heute ist nicht vollständig aufgeklärt, ob diese Unternehmen rechtzeitig reagierten, um die Mängel zu beseitigen oder die Autofahrer zu warnen. Wo war hier der Aufschrei? 900 Millionen Dollar musste General Motors zahlen, bei VW reden wir bislang bereits von über 18 Milliarden Dollar Strafe. Ich wehre mich gegen die Unverhältnismäßigkeit, mit der wir momentan das Kind mit dem Bade ausschütten.

STANDARD: VW sitzt immer noch auf einem fetten Finanzpolster.

Müller: VW ist zusammen mit Toyota der größte Autobauer der Welt. VW hat 200 Milliarden Jahresumsatz, einen Nettogewinn von zehn Milliarden. Die Strafe wird natürlich ein Jahr lang schwer in die Bücher schlagen, Volkswagen wird aber natürlich weiter profitabel sein und mit der größte Autobauer der Welt bleiben. Ich denke, dass in wenigen Monaten der Abgasskandal genauso in Vergessenheit geraten sein wird wie jetzt die Griechenlandkrise. Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt, von einer Hysterie in die nächste zu verfallen. Wir müssen unseren Umgang mit Fakten und Ereignissen neu überdenken und wieder zu normalen Abwägungen kommen, Dinge auch wieder von mehreren Seiten betrachten, um vernünftige Urteile fällen zu können und die Hysterie hintanzustellen. Die derzeitige Entwicklung gefällt mir gar nicht.

STANDARD: War der Abgang von Konzernchef Martin Winterkorn die richtige Vorgehensweise?

Müller: Ich habe höchsten Respekt vor dem Rücktritt Winterkorns und ziehe meinen Hut. Er ist das, was man seit Jahrzehnten von Wirtschaftsführenden oder Politikern erwartet, wenn sie in solch einer Funktion sind. Sie haben die Verantwortung und werden dieser am Ende, wenn etwas schiefgeht, auch gerecht. Winterkorns Entschluss ist ehrenwert. Gewünscht hätte ich mir das jedoch auch von vielen anderen. Bei Politikern, die für ihre Tätigkeiten schon längst nicht mehr die Verantwortung übernehmen und – egal, was passiert – in ihrem Amt bleiben. Bei vielen, vielen Unternehmenslenkern, bei denen noch weit größere Sauereien bekannt wurden und die immer noch im Chefsessel sitzen. Winterkorn hat mit seinem Rücktritt Konsequenz bewiesen – eine einsame Entscheidung: Nur wenige haben dasselbe unter vergleichbaren Umständen getan. (Sigrid Schamall, 26.9.2015)