"Bildnis eines unbekannten jungen Mannes mit Hut und Zigarette" (1962–65).


Foto: Sepp Spiegl

München – Zeichen, Literatur, Bild, Musik. Individualisierung und Universalität. Monade und Askese. Akribie und Obsession. Gesamtkunstwerk und Wunderkammer. Überliefern, Ordnen, Kopieren. Das Verstreichen der Zeit aufhalten. Sie regulieren.
Die Arbeiten Hanne Darbovens (1941–2009) verleiten zu ganz großen Schlagworten. Diese durchziehen auch die monumentale Präsentation, die erste Retrospektive seit ihrem Tod, im Münchner Haus der Kunst.

2000 Quadratmeter reichen gerade so aus für etwas mehr als ein Dutzend ihrer riesigen Werke. "Aufklärung" lautet der Titel der Schau. Aufklärung deshalb, weil sie die ganze Welt praktisch wie erkenntnistheoretisch in Kunst überführte. Sie in ihrer Zeit aufbewahrte, scheinbar Unvereinbares enzyklopädisch zusammenführte, Medienschnipsel, Technikgeschichte, Anthropologie. Zeitgleich führt die Bundeskunsthalle in Bonn bis 17. Jänner mit "Hanne Darboven – Zeitgeschichten" einen zweiten Strang ihres Werks vor: Darboven, derzeit auch in Wien in der Galerie Crone zu sehen, als Zeitbeobachterin.

Im Zweiten Weltkrieg in München in einen Zweig einer großbürgerlichen Hamburger Kaffeerösterdynastie geboren, verbrachte Hanne Darboven nahezu ihr gesamtes Leben an der Elbe. Nach einem sie ernüchternden Kunststudium waren die Jahre in New York von 1966 bis 1968 prägend. Dort lernte sie die Konzeptkünstler Carl André und Sol LeWitt kennen, letzterer Jahre lang Förderer und Ansprechpartner. Seit ihrer Rückkehr und dem Tod ihres Vaters im selben Jahr lebte sie mit ihrer Mutter im von einem Park umgebenen Gutshof der Familie im Süden Hamburgs. In diesem Haus war auch ihr Atelier, das legendär und zum Kunstwerk wurde. Nach und nach eroberten sich ihre Sammlungen von Nippes über Skulpturen bis zu Hirschgeweihen Raum für Raum. Erschien Hanne Darboven ein Raum künstlerisch abgeschlossen, wurde er in diesem Zustand belassen.

Früh bereits entwickelte sie ein komplexes System von Notationen, mathematischen Quersummen-Umrechnungen von Tagesdaten, handgeschriebenen Buchstaben und Ziffernkolonnen. Die kaum variiert zu endlosen Permutationen, Objektreihen, wurden. Teils, wie in Kulturgeschichte 1880–1983, bis zu 1590 Mal. 1590 Holzrahmen, eng an eng und in acht Reihen übereinander gehängt, voller skripturaler Schleifen, plus 19 Skulpturen bilden diese gigantische, die zentrale Halle fast vollständig ausfüllende Installation.

Das Merkwürdige an der Münchner Ausstellung ist, dass sich echte Lebendigkeit erst bei einem Objekt einstellt, das Direktor Okwui Enwezor verschämt, ganz hinten, versteckt hat – ein Fernseher. Hier läuft Walter Smerlings Darboven-TV-Porträt Mein Geheimnis ist, daß ich keins habe von 1991. Man hört ihre prägnante Stimme und erlebt ihren trockenen Witz, man kann die Androgyne mit der Prinz-Eisenherz-Gedächtnisfrisur und der rigiden Selbstdisziplin im Atelier, mit Mitarbeitern, beim Feiern sehen. "Ich mache nicht minimal art. Ich mache Maximal Art", sagt sie. Und plötzlich gilt dies, öffnet dieser Satz die Augen maximal.

Diese Ausstellung ist der bisherige Höhepunkt der Askesebestrebungen Enwezors in seinen vier Jahren als Direktor, der seit Anbeginn auf Reduktion und Konzentration setzt. Bei Hanne Darboven wirkt das Haus der Kunst tatsächlich nun wie abgeschottet. Alles ist andersweltlich, außerzeitlich. Fast sakral. (Alexander Kluy, 25.9.2015)