Geprobt wird auch noch in der Bellaria-Straße: Volkstheater-Schauspielerin Steffi Krautz als Politikerin im "Marienthaler Dachs".

Foto: Polster/Volkstheater

Wien – Das merkwürdigste Stück dieser Tage hat ausgerechnet ein "Postdramatiker" geschrieben. Von Beruf ist der Braunschweiger Ulf Schmidt (49) Digitalberater. Seinen Durchbruch erlebte er 2014 beim Heidelberger Stückemarkt. Dort wurde sein Marienthaler Dachs von einer staunenden Jury mit dem Hauptpreis ausgezeichnet. Marienthal heißt ein Ortsteil im niederösterreichischen Gramatneusiedl. Mit der grundlegenden Studie über Die Arbeitslosen von Marienthal gelang Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel Anfang der 1930er-Jahre ein Klassiker der sozialen Feldforschung.

Die Hauptthese der Sozialforscher hat Schmidt ebenso wie den Schauplatz übernommen. Langzeitarbeitslosigkeit macht unfrei. Sie verleitet die Betroffenen zur Apathie und hindert sie an der Vertretung ihrer Interessen. Wenn nur vor allem diese Müdigkeit nicht wäre! So fängt Schmidts Stück an: "Vater Staat" und "Mutter Konzern" sitzen seufzend im Marienthaler Heim, das "Haus Bank-Rott" heißt. Zu besichtigen sind die schiefen Gebäude dieser Allegorie auf den Kapitalismus ab heute Abend im Wiener Volkstheater, wo der deutsche Chorregisseur Volker Lösch die Uraufführung inszeniert (19.30 Uhr).

Marienthal ist eine einzige riesige Bühneninstallation. Der "Marktplatz" wird von einem Turm überragt, in dem laut einer alten Überlieferung der weise "Dachs" sitzt. Ihm, einer Art Christus im Dachshaargewand, hat die Masse der Arbeitslosen zu huldigen und ihn mit Geschenken geneigt zu stimmen. Der Dachs ist der wörtlich genommene "Dax". Sein Wohlergehen bildet den Index für das Gedeihen des ganzen Ortes.

Alle Figuren des Geschehens sind im Grunde nichts anderes als vermenschlichte Begriffe. Der verschwundene Sohn der Familie ist der sprichwörtliche "kleine Mann", die Betreiber einer Gastwirtschaft heißen "Herr Knecht" und "Milchmädchen". Die kommunale Fabrik ist schon lange geschlossen, die Zurückgelassenen schlagen die Zeit tot oder bereiten aus Katzen und Hunden frugale Mahlzeiten.

Dämme gegen Kot

Der Marienthaler Dachs besitzt einen Untertitel: "Die Hoffnung stirbt zuletzt". Zuvor sterben nämlich noch die Fremden. Ihnen begegnet man misstrauisch, auch wenn zwei Zuzügler um die politische Zustimmung der Marienthaler werben. "Andi Arbeit" ist der klassische aufrechte Sozialdemokrat, sein Gegenstück bildet eine rechte Hetzerin.

Der Ort ist von furchtbarer Gefahr bedroht. Die "Scheißthalsperre" droht zu brechen. Mit ihrem Kollaps wäre zwar das Elend beseitigt, jedoch auch Marienthal kaputt. Rasch wird der Bürgermeister gelyncht. Auch der freundlichere der beiden Wahlwerber findet einen gewaltsamen Tod. Als auch noch der Turm zusammenstürzt, stellt sich die Anwesenheit des göttlichen Dachses als reine Fiktion heraus.

Regisseur Lösch wird im Volkstheater wiederum mit Chören arbeiten, die sich großteils aus Laien zusammensetzen. Die Mühle des Kapitalismus mahlt alle(s) klein. Umso mehr bedarf es großer Texte wie des Marienthaler Dachses. Ausgedruckt umfasst er 105 A3-Seiten. Die Rollenprosa ist über sieben Spalten simultan verteilt. (Ronald Pohl, 24.9.2015)