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Flüchtlinge aus Syrien vor Mitgliedern der türkischen Polizei, die an der Grenze des Landes zu Griechenland den Weg blockieren.

Foto: EPA/TOLGA BOZOGLU

Mehr syrische Flüchtlinge als in alle Staaten Europas zusammen, leben auf türkischem Staatsgebiet. Zwei Millionen sind in der Türkei untergebracht. Viele der ankommenden Flüchtlinge wagen allerdings täglich die gefährliche Überfahrt auf eine der griechischen Inseln und somit in die Europäische Union. Beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs am Mittwoch wurde auch beschlossen, dass die EU der Türkei künftig in Sachen Flüchtlinge finanziell hilft.

STANDARD: "Man kann am Meer keine Mauern bauen", damit hat der Chef der Europäischen Stabilitätsinitiative unter anderem gemeint, dass es ohne die Türkei in Bezug auf die Flüchtlingskrise keine europäische Lösung geben wird. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Yaşar Aydin: Die Staaten Europas sind auf eine bessere Kooperation angewiesen und dazu muss die Türkei überzeugt werden. Das heißt auch, dass die EU-Staaten das Land nicht mit den Flüchtlingen alleinlassen dürfen. Es leben mehr als zwei Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei. Der Druck entsteht auch, weil die Versorgungsstandards nicht so hoch sind wie etwa in Deutschland. Wenn es den Leuten besser geht, würden sie womöglich nicht größere Risiken auf sich nehmen, um nach Europa zu kommen.

STANDARD: Reicht es, dass die Union die Türkei finanziell unterstützt oder braucht es Gesetzesänderungen in der Türkei? Etwa eine Arbeitserlaubnis für Flüchtlinge.

Aydin: Die Türkei hat kein kohärentes Integrationsgesetz. Sie dulden irreguläre Migration, um die notwendigen Rahmenbedingungen zu vermeiden. Gesetzliche Regelungen müssten her, aber das wird nicht von heute auf morgen geschehen. Im Moment ist es sehr unpopulär, mit solchen Gesetzen zu kommen. Die syrischen Flüchtlinge tangieren bereits das Leben der Einheimischen, weil die Wohnungspreise steigen, die Löhne fallen oder indem sie das Stadtbild prägen. In sechs Wochen finden die Parlamentswahlen statt.

STANDARD: Am Anfang wurde die Türkei ja noch sehr gelobt, weil sie die Grenzen für Syrer geöffnet hat. Was hat die Türkei dann aber bei der Integration der Flüchtlinge verabsäumt, wenn sich die Einheimischen jetzt bedroht fühlen?

Aydin: Die Flüchtlinge werden in Zelten oder leerstehenden Häusern untergebracht. Am Anfang ist die Türkei davon ausgegangen, dass der Bürgerkrieg schnell beendet ist und die Menschen wieder zurückgeführt werden. Das ist nicht geschehen. Zum Teil handelt es sich bei den syrischen Flüchtlingen um junge Leute, die man nicht in Lagern oder Sammelunterkünften halten kann. Diese jungen Menschen ziehen zum Teil vagabundierend durch die Gegend, verkaufen Sachen auf der Straße. Dadurch floriert der Schwarzmarkt. Es gibt ja keine Visumspflicht für Menschen aus Syrien. Die Türkei müsste die Politik der offenen Grenzen einmal in Frage stellen. Auf der anderen Seite sind die offenen Grenzen wirtschaftlich für die Türkei wichtig. Wenn man den Handel mit arabischen Staaten bedenkt. Eine schwierige Entscheidung.

STANDARD: Ein Expertenvorschlag ging dahin, dass die EU eine Million Syrer aus der Türkei aufnehmen sollte. Im Gegenzug sollte die Türkei, das 2017 in Kraft tretende Rücknahmeabkommen schon jetzt durchzuführen. Wie realistisch wäre das? Im Jahr 2014 hat Griechenland, das bereits einen Vertrag mit der Türkei hat, 9600 Rücknahmeanträge für Flüchtlinge gestellt. Sechs hat die Türkei akzeptiert.

Aydin: Die Türkei wird nicht auf diesen Vorschlag aufspringen. Damit wären Risiken verbunden. Es werden weitere Flüchtlinge in die Türkei kommen und es ist schwierig, die Grenzen zu kontrollieren. Selbst wenn es die türkischen Behörden wollten, ist eine mehr als 800 Kilometer lange Grenze zu Syrien schwer dicht zu machen.

STANDARD: Was kann oder muss die EU der Türkei anbieten, damit die Behörden enger kooperieren?

Aydin: Die Türkei braucht eine glaubwürdige Beitrittsperspektive. 2005 wurden die Verhandlungen aufgenommen. Damals hatten wir keinen Flüchtlingsstrom, es gab noch keine autoritären Tendenzen in der Türkei. Trotzdem begann man in den EU-Mitgliedsstaaten zu debattieren, ob die Türkei in die EU gehört oder der Islam EU-kompatibel ist. Jetzt ist es so, dass, auch wenn die Türkei die Voraussetzungen erfüllt, einzelne Staaten den Beitritt mit einem Referendum kippen könnten. Das ist keine glaubwürdige Perspektive. Die braucht es aber, damit sich das Land nicht wie im Moment am Nahen Osten orientiert.

STANDARD: Inwieweit ist es Kalkül, dass die Grenzen in den Norden eine Zeit lang geöffnet wurden?

Aydin: Das kann ich schlecht einschätzen. Das hängt auch von dem Flüchtlingsdruck ab. In der Türkei eskaliert im Moment die Gewalt und da erhöht sich sicher auch der Druck im Inneren des Landes.

STANDARD: Punkto eskalierende Gewalt: Die Türkei ist immer noch ein sicheres Drittland für die EU und Flüchtlinge werden rückgeführt. Inwieweit müsste man das überdenken?

Aydin: Man müsste überdenken, für wen es ein sicheres Drittland bedeutet. Wenn die Gewalt nicht eingedämmt wird, wenn die Türkei in alte Konfliktmuster wie in den 90er-Jahren zurückfällt, dann wird die Türkei nicht mehr sicher sein. Aber ob das im Moment auch für die Flüchtlinge gilt, ist noch abzuwarten. Noch steht das Land an der Schwelle. (Bianca Blei, 25.9.2015)