Benyaich: "Mit Radikalismus meine ich, dass eine ziemlich große Gruppe von muslimisch geprägten Jugendlichen den Jihadi-Lifestyle als eine Art Subkultur für gut befindet."

Foto: Toumaj Khakpour

Der belgische Radikalismus-Forscher Bilal Benyaich erzählt im Gespräch mit daStandard, warum der Islam als identitätsstiftender Faktor wachsenden Einfluss auf muslimisch geprägte Einwanderer hat und weshalb radikal sein keine Gefahr ist.

daStandard: Herr Benyaich, seit Jahren forschen Sie zu den Themen Radikalismus, Extremismus, Terrorismus. So heißt auch Ihr gerade erschienenes Buch. Wie kamen Sie zu Ihrem Forschungsthema?

Benyaich: Ich wurde im Jahr 1982 in Flandern geboren. So manche Familien begannen schon in den 1980ern, religiöser zu werden, auch die wirtschaftliche Krise war ein großes Thema, viele Kohleminen, in denen Migranten arbeiteten, mussten geschlossen werden. Viele von ihnen waren in den 1960ern gekommen, um harte Arbeiten zu verrichten, meistens waren es junge Männer. Als diese dann in der Krise in Belgien arbeitslos wurden, gab es nur wenige Möglichkeiten, einen neuen Job zu erlernen, da auch ein Sprach- und Bildungsdefizit vorhanden war.

Viele fühlten sich nicht mehr angenommen, und so begann ihre Identitätsfindung rund um alles, was man heute als Islam im breiteren Sinne definieren würde. Radikaler wurden sie dann, als islamistische Aktivisten aus ihren säkularen, arabischen Ländern nach Europa flohen. Sie brachten den Wahhabismus, Salafismus oder das Verständnis des Islam, wie er von der Muslimbruderschaft praktiziert wird.

daStandard: Das muslimische Religionsbekenntnis wurde damit wichtiger für die Identität?

Benyaich: So in etwa könnte man dies ausdrücken. Zuvor, als viele Einwanderer noch Arbeit hatten, identifizierten sie sich mit ihren weißen, belgischen Kollegen, sie waren Teil einer losen sozialen Gruppe. Die Situation änderte sich, als sie arbeitslos wurden und nach Sinn und Halt suchten. Viele fanden diesen Halt in islamistischen Strömungen, wie sie von Saudi-Arabien finanziert werden. Auch die Art und Weise, wie der Islam ausgelegt wurde, veränderte sich. Während in Tunesien, Marokko und Algerien der Islam mehr kulturell gelebt wird und auch afrikanische Einflüsse hat, stammt der viel konservativere Islam aus dem Osten der arabischen Welt.

daStandard: Wie wichtig ist der Islam als identitätsstiftendes Element? Immerhin gibt es ja auch eine vorislamische Zeit, die ebenso wichtig sein könnte.

Benyaich: Ich glaube, es hat mit dem langjährigen politischen Diskurs zu tun, der über Jahrzehnte geführt wurde. Es gab auch Versuche, die arabische Welt weiter nach links zu lenken. Durch sozialistische, kommunistische oder auch links-liberale Kräfte. Nur sie alle hatten nicht den Einschlag, den sie benötigten, und so wuchs die andere große Kraft: der politische Islam. Dieser geht von der Maxime aus, dass der Islam die Antwort auf alles nur Erdenkliche ist – auch auf Identitätsfragen. Das islamische Zentrum hier in Brüssel wurde beispielsweise bis zum Ende der 1980er von Wahhabiten geleitet. Die belgische Regierung ließ zu, dass sie ihre Infrastruktur aufbauen, ohne dass sie es merkte.

daStandard: Daher war bereits alles vorhanden für die Radikalisierung?

Benyaich: Die Hardware war dann schon vorhanden, und die Software wurde ebenso weiterentwickelt. Als viele muslimische Arbeiter keinen Job mehr fanden, war dann die richtige Zeit gekommen, sie mit diesen neuartigen Theorien über Europa und die Gesellschaft abzufangen. Hinzu kamen die großen Konflikte: Afghanistan, Ägypten, Algerien. Elemente des salafistischen Islam wurden Mainstream, und die Ideologie schwappte auf die alten europäischen Staaten über und weiter zur zweiten und dritten Generation muslimischer Einwanderer dort.

daStandard: Wenn man sich diejenigen ansieht, die sich als Kämpfer melden, dann sind es auch Konvertiten und einige, die kein Arabisch sprechen und sich mit der Religion Islam eigentlich wenig beschäftigen, sich aber von dieser Idee sehr beflügelt fühlen. Warum ist dies so?

Benyaich: Wenn man sich die Profile der Jihadis ansieht, dann kann man Unterscheidungen treffen. Es gibt zunächst den eingefleischten Kern der Hardcore-Jihadis, dann die Gruppe der Gebildeten, die mehr politisch als religiös motiviert sind, hinzu kommen die Verlierer der Gesellschaft, die ziemlich jung sind, zwischen 16 und 23 im Durchschnitt. Das sind meistens Leute aus armen Familien ohne starken Familienhalt, die sich damit einer sozialen Gruppe anschließen. Sie denken in Schwarz und Weiß, sie trachten nach einem religiösen Faschismus, und ihre Gruppe ist wie eine Art Sekte.

daStandard: Wie erklären Sie sich, dass jemand aus einer sicheren, reichen Umgebung wie Belgien in eine unsichere, arme und lebensfeindliche Umgebung, wie es das zerrüttete Syrien oder der Irak sind, will?

Benyaich: Das kommt mit der Zeit. Man hat verschiedene Etappen der Radikalisierung. Es ist ein Prozess, der lange dauert, aber es gibt auch Fälle, in denen jemand in eineinhalb Wochen von einem Nichtmuslim zu einem Jihadisten wird. Üblicherweise dauert es zwischen sechs Monaten und einem Jahr. Hier spielen islamistische Rekrutierer eine große Rolle. Und dort wird das Leben auch attraktiv gemacht. Man hat schöne Häuser, ein gutes, festes Einkommen, dann nicht zu vergessen der soziale Status, du bist Teil der Geschichte, du bist Teil der internationalen Schlagzeilen. Und das ist besser, als arbeitslos und ohne Zukunft in Belgien zu sitzen.

daStandard: Sprechen wir über die Regierungsebene: Hat Belgien zu wenig getan oder diese Entwicklungen gar ignoriert?

Benyaich: Sie haben zwar nicht weggesehen, haben es aber nicht erfassen können. Unterschiedliche Variablen haben dazu geführt, dass man dachte, das Problem sei nicht so wichtig. Deshalb, weil die Abstände zwischen Radikalismus, Extremismus und letzten Endes Terrorismus kurz sind.

daStandard: Über welche Materie sprechen wir, wenn wir Radikalismus sagen?

Benyaich: Mit Radikalismus meine ich, dass eine ziemlich große Gruppe von muslimisch geprägten Jugendlichen den Jihadi-Lifestyle als eine Art Subkultur für gut befindet. Beispielsweise sind das junge Frauen ab 16, die nicht Teil des Mainstreams sein wollen und anfangen, den Lebensstil der jungen Salafisten auf gewisse Weise nachzuahmen. Aber das ist bei den meisten auch nur eine Phase, später, mit 21, nehmen sie das Kopftuch ab. Es geht hier vielmehr um eine moralische Unterstützung, keine militärische. Daher werden radikale Beiträge geteilt, Nachrichten gelesen, Statusmeldungen auf Facebook gelikt, Themen auf Instagram und Twitter verbreitet. Davon gibt es Hunderttausende. Nur einige, wenige Tausend werden dann wirklich extremistisch, und einige wiederum terroristisch.

Radikal sein ist auch nicht per se ein Problem, Extremist sein schon. Viele in der Gesellschaft haben radikale Ansichten. Man darf beispielsweise ruhig sagen, dass man Muslime nicht gut findet, ebenso können Muslime sagen, dass sie Nichtmuslime schlecht finden. Das ist Meinungsfreiheit. Man darf aber nicht sagen "Tötet die Muslime" oder "Tötet die Ungläubigen". Das wäre extremistisch. Der Extremist wird Gewalt ausüben, der Radikale aber nicht.

daStandard: Aber hat diese Entwicklung nicht auch viel mit Diskriminierung zu tun?

Benyaich: Es hat mit dem Gefühl der Exklusion zu tun. Aber nicht alles, was man von Einheimischen hört, ist Rassismus. Wenn ein weißer Hemdträger, der sein Leben lang in einer weißen Nachbarschaft gelebt hat, allmählich sieht, dass sich seine Nachbarschaft verändert, dass mehr und mehr Migranten dahinziehen, und er sagt: "Ich fühle mich hier wie ein Fremder", dann muss man ihn ernst nehmen und darf nicht wegsehen. Es ist kein Rassismus, sich so zu äußern. Dass führt nur dazu, dass rechte Parteien weiterhin erstarken, weil die so tun, als hätten sie ein offenes Ohr dafür, während andere, seriöse Parteien der Thematik lieber aus dem Weg gehen würden. (Toumaj Khakpour, daStandard.at)