Das Mädchen mit der Kamera und die Großmutter mit dem wilden Blick: Olivia DeJonge und Deanna Dunagan in M. Night Shyamalans Low-Budget-Horror "The Visit".

Foto: upi

Bild nicht mehr verfügbar.

Regisseur M. Night Shyamalan.

Foto: REUTERS/Mario Anzuoni

Wien – Die Geschwister Rebecca (Olivia DeJonge) und Tyler (Ed Oxenbould) brechen zu einem einwöchigen Ausflug zu ihren Großeltern ins verschneite Pennsylvania auf. Mithilfe eines Videotagebuchs wollen sie die zerstrittene Familie versöhnen. Doch schon bald merken sie, dass die zurückgezogen lebenden Alten ein Geheimnis verbergen.

STANDARD: Ein wesentlicher Reiz Ihres Films liegt darin, dass er als Mockumentary konzipiert ist und ausschließlich aus der Perspektive der Kinder erzählt. Wird die Fiktion zur Wirklichkeit?

Shyamalan: Das Mädchen möchte eine liebevolle Dokumentation über ihre Familie drehen. Es hat ein Auge für das Schöne und will etwas Kreatives gestalten. Wenn der Bruder die Kamera übernimmt, wird dieser Versuch quasi korrumpiert – er hält nur drauf. Das fand ich interessant: wie sich Realität verändern kann, je nachdem, mit welchen Augen sie betrachtet wird.

STANDARD: Anders als Filme wie "The Blair Witch Project" schaffen Sie jedoch zusätzliche Momente der Verstörung, etwa wenn man plötzlich beide Kinder sieht.

Shyamalan: Hier stellt man sich die Frage: Gibt es da jemand Dritten? Es ist einfach zu sagen, ich erzähle eine Story aus der Perspektive desjenigen, der filmt. Aber das genügt nicht – diese Kinder sind ja kein Kamerateam auf Geisterjagd. Es geht um das, was dahinterliegt und was man findet, indem man filmt. Dann verkehren sich Sein und Schein. Das Mädchen will etwas Schönes schaffen und findet etwas Schreckliches.

STANDARD: Diese Gegensätze finden sich auch in der Erzählung: Die Großeltern treffen die Enkel, die Kinder kommen von der Stadt aufs Land.

Shyamalan: Zugleich rücken aber Bruder und Schwester immer näher zusammen. Bis sie schließlich auch beide filmen. Ich habe mit jemandem gesprochen, der an Blair Witch beteiligt war, und hatte Kontakt mit den Leuten von Paranormal Activity. Sie haben gesagt: Du darfst nur eine Kamera nehmen, sonst ist die Spannung weg. Aber indem beide Kinder filmen, werden sie wieder zu einer Einheit.

Movieclips Trailers

STANDARD: Sie spielen lustvoll mit klassischen Horrorelementen, das "Hänsel und Gretel"-Motiv kommt spätestens mit dem Backofen einer Parodie gleich. Warum hat alles einen doppelten Boden?

Shyamalan: Ich mag es, meine Geschichten noch einmal zu kommentieren oder die Charaktere erkennen zu lassen, dass sie Teil einer größeren Geschichte sind, wie etwa in Lady in the Water oder in Unbreakable. Jeder von uns baut sich sein Leben als Erzählung und ist trotzdem immer in einer größeren gefangen.

STANDARD: Wie die Menschen in Ihrem Mysterythriller "The Village", die nie ihr Dorf verlassen und gar nicht wissen, dass sie von einer Außenwelt umgeben sind.

Shyamalan: Deshalb ist es notwendig, vorgeschriebene Erzählungen zu durchbrechen.

STANDARD: Den letzten Puzzlestein muss aber stets das Publikum selbst legen, nicht wahr?

Shyamalan: Man muss mit dem Zuschauer ein dreifaches Spiel spielen: Zunächst gibt es die Geschichte, von der er weiß, dass er sie nicht glauben darf. Natürlich geht es in The Visit nicht nur um Kinder, die ihre Großeltern besuchen. Dann kommt die zweite Geschichte, von der er glaubt, dass es die richtige ist, und er vermeint, dich durchschaut zu haben. Er denkt sich: "In Wirklichkeit ist die Alte ein Werwolf" oder "Das sind sicher zwei Vampire". Aber in Wahrheit hast du ihn längst mit einer dritten Geschichte überrumpelt.

STANDARD: "The Visit" erzählt auch vom Wunsch nach einer harmonischen Familie. Doch ausgerechnet dieser Wunsch nach Idylle führt direkt in den Horror.

Shyamalan: The Visit handelt von Vergebung. Ich gehe in meinen Filmen vom Bild einer Kernfamilie aus, das ist sozusagen das Paradigma, auf dem meine Geschichten aufbauen. So wie Stephen King über Schriftsteller in Maine schreibt, weil er selbst einer ist.

STANDARD: Aber Ihr Familienbild ist eben nicht harmonisch. Ihre Figuren haben, wie in "Signs", mit dem Verlust oder dem Tod eines Familienmitglieds zu kämpfen. Sogar in "Stuart Little", den Sie geschrieben haben, ist die Maus ein Findelkind.

Shyamalan: Deshalb erzählen meine Filme auch von einem Heilungsprozess. Wenn man wie der Held in Unbreakable unverwundbar ist, stürzt man eben deshalb in die Tiefe. In meinen Filmen findet sich immer eine Art von Elixier, wie Joseph Campbell dieses Geheimnis beschrieben hat.

STANDARD: So wie die Geschichte, die die Großmutter erzählt. Sie handelt von Außerirdischen, die in einen Teich spucken. Wollen Sie dieses Geheimnis verraten?

Shyamalan: Es ist ihre Erklärung, warum sie ihren Kinder damals das angetan hat, was sie ihnen angetan hat. (Michael Pekler, 23.9.2015)