Vor einigen Tagen erhielt ich ein E-Mail von L. E., einer dreiundachtzig Jahre alten Österreicherin, die mich über die Bemerkung eines ZDF-Journalisten in einer populären deutschen Diskussionssendung informierte. Er sagte sinngemäß, die rund 200.000 ungarischen Flüchtlinge nach dem Volksaufstand 1956 wurden in Österreich "unter katastrophalen Bedingungen in Flüchtlingslagern gehalten". Dies hätte eine Katalysatorwirkung auf andere Länder gehabt, die dann bereit gewesen seien, Flüchtlinge aufzunehmen. Frau E. war sehr betroffen, da nach ihren Erinnerungen Österreich, "alles in seiner Macht Stehende für die ungarischen Nachbarn getan" habe. Sie wollte von mir wissen, ob die Behauptung des ZDF-Mannes der Wahrheit entspricht.

Umgehend teilte ich ihr mit, dass ich und alle meine Freunde damals nur Gutes gehört und persönlich erlebt hatten. Die ungarischen Asylwerber hatten damals das gute Österreich kennengelernt, wo die Menschen nicht nachforschten, wer was ist oder als was er gilt, sondern einfach halfen. Vom ersten Tag an versuchte ich, als Journalist zu arbeiten. Ich schrieb kein einziges Wort auf Ungarisch. Stündlich hörte ich die Nachrichten aus dem unterdrückten Nachbarland und informierte die Korrespondenten der New York Times, der Nachrichtenagentur United Press und der Londoner Times. Ein Kredit mit minimalem Zinssatz wurde mir von einem evangelischen Hilfswerk zur Finanzierung der Ablöse für eine Einzimmerwohnung im Parterre in der Josefstädter Straße 9 gewährt. Vom PEN-Club bekam ich ein Stipendium: 60 Dollar, sechs Monate lang, damit ich eine Schreibmaschine mieten konnte. Kollegen wie Hugo Portisch (damals Kurier), Otto Schulmeister und Adam Wandruszka (Die Presse), die Ungarn-Experten Eugen Geza Pogany und Ladislaus Rosdy haben mir mit Rat und Tat geholfen. Wegen meiner Eltern in Budapest habe ich bis 1962 unter drei Decknamen (György Hollo, Arpad Becs und Paul Landy) die Artikel platziert. Im Spiegel der Korrespondenz sehe ich einen 27-jährigen staatenlosen Flüchtling, der trotz Enttäuschungen in Wien ein neues Leben anfing.

Ungarn war freilich auch ein Sonderfall. Wir alle waren privilegiert gewesen, weil wir aus Ungarn stammten. Wie mein verstorbener Freund und "Österreich-Lehrer" Kurt Vorhofer zum 30. Jahrestag des Aufstandes in der Kleinen schrieb: "Die Magyaren sind das einzige Nachbarvolk, über das hierzulande eigentlich nicht gewitzelt oder gar gehöhnt wird." Ich schätze, dass rund 18.000 Flüchtlinge zu Österreichern geworden sind.

Deshalb schmerzt mich der beunruhigende Riss, der sich zwischen dem Land meiner Jugend und Österreich und seinen Menschen, die mir in "finsteren Zeiten"(Bert Brecht) neue Heimat geboten haben, dieser Tage auftut. Die abstoßende Mischung aus Zynismus und Dilettantismus der Orbán-Regierung angesichts der beispiellosen Flut der Flüchtlinge verletzt die Grenzen des moralischen Zumutbaren. Der gewaltsame Ansturm der Grenze Ungarns durch Hooligans aus der Masse der verzweifelten Fremden – ungehindert von der serbischen Polizei – ist freilich ebenso zu verurteilen wie die Hassrhetorik von rechts in Österreich. (Paul Lendvai, 18.9.2015)