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Die italienische Marine Anfang September während einer Rettungsoperation für Flüchtlinge vor der libyschen Küste.

Foto: APA/EPA/ITALIAN NAVY PRESS OFFICE

STANDARD: In der Flüchtlingskrise hat Europa versagt. Wird am Ende das europäische Projekt scheitern?

Gentiloni: Das Risiko gibt es, auch wenn die EU und zum Teil die EU-Kommission in den vergangenen fünf Monaten vorangekommen sind. Und zwar seit dem 18. April, als hunderte Menschen im Mittelmeer ertranken und Italiens Premierminister Matteo Renzi als erster einen EU-Sondergipfel zu den Flüchtlingen verlangte. Das war die Stunde null, danach war die Zuwanderung Topthema der Kommission. Vor zehn Tagen hat es Präsident Jean-Claude Juncker wieder auf die Agenda gesetzt – und am Mittwoch werden wir einen neuen EU-Gipfel haben –, aber die Krise und die Spannungen sind viel schneller als die europäische Antwort. Insofern: Ja, es ist wahr, das Risiko ist riesig.

STANDARD: Gibt es Hoffnung, aus der Krise zu wachsen und eine politische Integration zu beschleunigen?

Gentiloni: Ich bin davon überzeugt, denn Europa braucht nach einem Jahrzehnt der Diktatur von Regelungen und Prozenten eine Politik der Werte und Prinzipien. Die Flüchtlingskrise ist sowohl eine Bedrohung als auch eine Chance. Voraussetzung ist aber, wie Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann Ende August in Wien sagte, dass die Schuldzuweisung des Nachbarn aufhört und man zu einer gemeinsamen Mitverantwortung, mit allen Aspekten der europäischen Migrationspolitik, übergeht. Aus dieser Krise kann Europa in der Tat sogar noch stärker herauskommen.

STANDARD: Bis dato gibt es keine Ergebnisse. Sind Quoten und Hotspots wirklich die Lösung?

Gentiloni: Wenn Italien von einem gemeinsamen Herangehen an alle Aspekte der Einwanderungspolitik spricht, geht es selbstverständlich davon aus, dass Hotspots und Verteilung allein nicht genug sind. Nicht nur angesichts der vielen Aufgaben, die gemeinsam zu meistern sind –Zusammenarbeit in den Herkunfts-und- Transitländern, Krisenmanagement und so weiter –, sondern weil man die aktuelle Krise im Rahmen der 25 Jahre alten Dublin-Regeln nicht lösen kann. Diese allmählich zu überwinden heißt, Aufnahme, Asyl, Verteilung und Rückführungspolitik gemeinsam zu organisieren. Wenn man all das stufenweise zusammen schafft, ist ein Kontinent mit 700 Millionen Einwohnern und einer, der zu den reichsten der Welt zählt, in der Lage, mehrere hunderttausend Migranten jährlich zu verwalten. Wenn man aber auf Mauern und Zäune pocht oder mit dem Finger auf den Nachbarn zeigt, laufen wir Gefahr, die überholten Dublin-Regeln zu verteidigen und das Grundprinzip der Freizügigkeit über Bord zu werfen.

STANDARD: Angesichts des Phänomens fragt man sich, ob es dahinter eine destabilisierende Strategie gibt?

Gentiloni: Dahinter gibt es natürlich Kriege wie in Syrien und Diktaturen wie in Eritrea; die Instabilität in Krisenländern, der Kollaps in Staaten wie Libyen und auch Demografie und Armut in Afrika. Zusätzlich zu diesen kraftvollen und nicht vorübergehenden Motoren der Flüchtlingsströme kommen die kriminellen Organisationen: echte Formen der Sklaverei im 21. Jahrhundert.

STANDARD: Europa und ist ein zahnloser Tiger, was kann es tun?

Gentiloni: Die Phase, in der die beiden Supermächte die Weltordnung bestimmt haben, ist vorbei. Genauso die einer vielleicht illusorischen Hypermacht. In Zeiten des Multilateralismus geht es darum, Lösungen mit diplomatischen Waffen und wirtschaftlichen Beziehungen und in manchen Fällen auch mit Gewalt, zu finden – und zwar mit Beteiligung von Europa, der USA und der wichtigsten Länder der Region. Ich denke, wir haben eine Chance, wenn auch sehr eine zerbrechliche, auf eine künftige Vereinbarung in Libyen. Und es gibt sogar, trotz allem, einen Schimmer Hoffnung für einen politischen Übergang in Syrien; das einzige, was uns auf ein Ende des Alptraums des Konflikts in dem Land hoffen lässt.

STANDARD: Ungarn schottet sich ab und Österreichs Kanzler Faymann zieht Nazi-Vergleiche. Stimmen Sie ihm zu?

Gentiloni: Ich stimme allen zu, die die Entscheidungen der ungarischen Regierung nicht im Einklang mit den EU-Grundsätzen sehen. Man kann nicht nur den guten Teil nehmen – Strukturfonds, freier Markt, Freizügigkeit der Arbeitnehmer – und gleichzeitig verächtlich die Prinzipien der Union ablehnen. Wir müssen in den kommenden Wochen einen Weg finden, um diese Botschaft in klaren Entscheidungen auf EU-Ebene umzusetzen.

STANDARD: Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel hat viel Kritik geerntet für die zeitweise Öffnung der Grenzen. War das ein Fehler?

Gentiloni: Nein, ich glaube die Kanzlerin hat eine mutige Entscheidung getroffen. Ich habe nie an die "pull theory" geglaubt, wonach manche Regierungsentscheidungen Flüchtlingsströme im Gang setzen. Ich habe diese Theorien kritisiert, als sie vor über einem Jahr gegen Italien gerichtet waren, als wir die Rettungsoperationen auf hoher See durchführten; und ich kritisiere sie jetzt, wenn sie gegen Berlin gerichtet werden. Selbstverständlich dürfen weder Italien noch Deutschland allein gelassen werden.

STANDARD: Dublin muss also reformiert werden. Wird es zu einer EU-Asylpolitik kommen? Wäre das wünschenswert? Würde sie die Flüchtlingsströme eindämmen oder eher verstärken?

Gentiloni: Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen: eine gegenseitige Anerkennung des Asylrechts, das zuerst in Zeiten der Krise eingeleitet werden könnte. Das ist genau der Sinn der "Relocation" (Verlagerung): Jene, die in Italien Asyl erhalten haben, können auch anderswo aufgenommen werden, zum Beispiel in Deutschland, Schweden, Österreich. Wichtig ist eine gemeinsame europäische Rückführungspolitik. Es ist sinnlos, die Augen vor der Tatsache zu schließen, dass mehr als ein Drittel der Migranten in Europa Wirtschaftsmigranten sind. Für Rückführungen braucht man Ressourcen, wirtschaftliche und logistische Vorkehrungen, diplomatische Vereinbarungen. All das können zwei oder drei Länder allein nicht schultern. Schließlich müsste man entscheiden, welche Länder als sichere Herkunftsländer gelten – sicherlich die EU-Beitrittskandidaten – und welche nicht. Diese Konzepte finden langsam Niederschlag in den Vorschlägen der EU-Kommission, aber die bittere Wahrheit ist, dass wir erst in diesen Wochen das erste Segment des Verteilungsprogramms in der EU (40.000 Flüchtlinge in zwei Jahren, Anm.) implementiert haben, was weniger als fünf Prozent aller irregulären Flüchtlinge in den vergangenen zwei Jahren wäre (Der neue Juncker-Plan sieht 120.000 vor, Anm.). Darum sage ich: Wir sind ein Stück Weg gegangen, aber es bleibt noch viel zu tun, und wir müssen uns beeilen.

STANDARD: Österreich besteht auf Quoten und spricht von Strafen für diejenigen, die gegen das Prinzip der Solidarität verstoßen, etwa Kürzungen bei den Strukturfonds. Sehen Sie das auch so?

Gentiloni: Zuerst einmal begrüße ich, dass die österreichische Regierung, die Schwierigkeiten der letzten Monate überwunden hat. Wir sind auf einer Linie, und das ist sehr wichtig für zwei Nachbarländer und Freunde, die hunderte Kilometer Grenze teilen und die, wenn Ungarn bei seiner Position bliebe, neuem Druck an der Nordost-Grenze (Tarvis-Arnoldstein, Anm.) ausgesetzt würden.

STANDARD: Die Visegrad-Länder lehnen Quoten ab, und zum Teil auch die muslimische Einwanderung – aus Angst vor einem Auseinanderfallen der Gesellschaft. Liegen sie da ganz falsch?

Gentiloni: Ja! Einige – ich denke an Polen – sind dabei ihre Meinung zu ändern. Ich sehe aber nicht ein, warum man Solidarität verweigern sollte, die man in ein paar Jahren oder Monaten vielleicht selber benötigen würde. Was passiert, wenn eine schwere Krise an unseren östlichen Grenzen ausbricht und hunderttausende Migranten in Bewegung kämen? Würde man Athen anrufen, um Hilfe zu bitten? Was die Religion angeht: Sie als Kriterium zu nehmen, würde der Logik von Asyl widersprechen.

STANDARD: Manche sagen, die Osterweiterung 2004 war ein Fehler. Was sagen Sie diesen Kritikern?

Gentiloni: Ich glaube nicht, dass man so schnell negative Schlussfolgerungen ziehen kann. Die Erweiterung war ein großer, strategischer, politischer Schritt. Ein Ausweg, die Teilung Europas in Blöcken friedlich zu beenden. Heute stehen wir mit der Zuwanderung vor einer neuen politischen, strategischen Entscheidung – und es wäre ein trauriges Paradoxon, wenn sich gerade jene Länder, die Protagonisten und Begünstigte der vorherigen waren, dieser Herausforderung entziehen würden.

STANDARD: Mit der Eurokrise war es sehr aktuell und mit der Flüchtlingskrise ist es Realität: Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Stimmen Sie einem Europa mit einem harten Kern zu, das vorangeht?

Gentiloni: Es handelt sich hier um eine andere strategisch- politische Herausforderung, die vor uns liegt. Teilweise überschneidet sie sich mit der Migration, aber sie involviert viele andere Themen. Ich glaube, dass die gemeinsame Währung eine zunehmende Integration unter den Euroländern erfordert; aber auch, dass Länder mit anderen Währungen das Recht haben, weiterhin vollständiges Mitglied der EU zu sein. Die Lösung liegt vielleicht nicht so sehr in dem Konzept der zwei Geschwindigkeiten, als vielmehr in der Vorstellung von der Koexistenz von zwei konzentrischen Kreisen in Europa mit unterschiedlichen Integrationsebenen; aber gekennzeichnet durch die gemeinsame Mitgliedschaft und den Glauben an seine Grundprinzipien.

STANDARD: Mit der Einwanderung fürchtet man die Infiltration durch Terroristen. Wie kann man sich wappnen? Und wie wichtig wäre hier eine Einbeziehung von Russland, Iran und Saudi-Arabien?

Gentiloni: Man muss unterscheiden. Es gibt die historische Herausforderung des Terrorismus, gegen den die Koalition gegen den "Islamischen Staat" (IS) entscheidend ist und wo man gemeinsame Interessen auch mit Ländern hat, die nicht dabei sind – wie der Iran und Russland. Die Bedrohung durch die Zuwanderung verlangt andererseits höchste Aufmerksamkeit aller Sicherheitskräfte und die Mitarbeit der Geheimdienste der verbündeten Länder. Wachsamkeit in allen Richtungen ist geboten. Die Geschichte dieser Monate lehrt uns außerdem, dass Terror-Bedrohungen nicht nur von außen kommen können, sondern auch von Menschen, die bei uns leben. (Flaminia Bussotti, 19.9.2015)