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Eine von einem Raketenangriff im April verwüstete Straße in Aleppo: laut der syrischen Nachrichtenagentur Sana Folge der Kampfhandlungen zwischen IS und Nusra-Front.

Foto: EPA/Sana

Eine irakische Facebook-Kampagne – mit bisher überschaubarer Anhängerschaft, aber man weiß, wie schnell sich das ändern kann – mit dem Namen "Ich wandere nicht aus" zeigt, wie komplex die Verhältnisse sind, die nun endgültig aus dem Nahen Osten zu uns übergeschwappt sind. Im Bericht von Al-Arabiya über "Ich wandere nicht aus" wird ein junger Mann in Nasiriya im Südirak vorgestellt: Er weiß von der Kampagne, bleibt jedoch dabei, dass er lieber heute als morgen gehen würde. Er könne aber seinen alten Vater nicht allein lassen.

Auch wenn die Lage in Nasiriya keineswegs automatisch auf jene anderer Flüchtlinge aus dem Irak oder anderswoher, die jetzt in Europa ankommen, übertragbar ist: Die Geschichte ist wohl auch ein Hinweis darauf, dass wir es zurzeit mit zwei unterschiedlichen Flüchtlingspopulationen zu tun haben: Menschen, die gehen müssen, um ihr nacktes Leben zu retten, und Menschen, die gehen, weil ihnen ihre Heimat keinerlei Hoffnung mehr gibt.

Bleiben sollen nur die einen

Und ein anderer Aspekt dieser Geschichte beantwortet eben gleich auch die Frage, was denn das Bleiben für manche so unerträglich macht, selbst in Gegenden, wo gerade kein Krieg ist:

Geht man auf die Facebook-Seite der Kampagne, dann wird man sie mit Zeichen und Bildern schiitischer Frömmigkeit garniert finden. Ein Sunnit, der diese Seite sieht, oder auch einfach ein irakischer Mensch, der in einer Welt ohne konfessionelle Kategorien oder religiöse Dominanz leben will, wird das als folgende Botschaft lesen: Die religiösen Schiiten werden aufgerufen zu bleiben – um das Land endgültig zu übernehmen. Wenn der "Islamische Staat", der andere Landesteile mit Krieg überzogen hat, einmal besiegt sein wird, ist noch lange nicht wieder alles gut im Irak.

Syrien, woher die meisten Flüchtlinge kommen – auch wenn man sich im Klaren darüber sein sollte, dass sich auch andere Araber in "Syrer" verwandeln -, ist großflächig von Kampfhandlungen betroffen. Seit 2011 musste etwa die Hälfte der Bevölkerung ihre Wohnorte verlassen. Dass der Strom nach Europa in den vergangenen Wochen so angeschwollen ist, hat gleich mehrere Gründe.

Da gibt es tatsächlich eine Zunahme der Kämpfe zwischen dem Assad-Regime beziehungsweise dessen Hilfstruppen (vor allem der libanesischen Hisbollah) und verschiedenen Rebellengruppen: Beim Krieg aus der Luft nimmt das Regime keinerlei Rücksicht auf Zivilisten, aus manchen Gebieten, auch bei Damaskus, fliehen die Menschen vor allem vor den Bombardements. Dazu kommen die Blockade, die Aushungerung, die Krankheiten: Not, Elend, Tod.

Und neuer Schrecken ist noch zu erwarten wie etwa die große Schlacht um Aleppo. Aber das ist nicht der einzige Krieg, bei uns noch stärker wahrgenommen werden ja die stetigen Vorstöße des "Islamischen Staats" (IS) – in die von den Kurden gehaltenen Gebiete im Norden, zurzeit auch im Nordwesten bei Idlib, aber auch im Südwesten bei Deraa.

Der IS tritt oft als Profiteur der Kämpfe zwischen Regime und Nusra-Front auf, der Filiale von Al-Kaida in Syrien. Die Kämpfe zwischen IS und Nusra nehmen im Moment wieder zu. Das heißt ganz konkret: In Syrien findet zurzeit gleich auch noch der große Kampf um die Führung des internationalen Jihadismus statt.

Und dann gibt es noch den dritten Krieg: die Luftschläge der US-geführten internationalen Allianz gegen den IS, die sich ständig ausweiten – nun wird sich auch Frankreich beteiligen, das bisher nur im Irak Einsätze flog. Die Menschen fliehen nicht nur vor dem IS, sondern auch vor dem Luftkrieg gegen den IS.

Doch nicht alle Flüchtlinge kommen direkt aus den Kampfgebieten, viele haben Syrien schon vor Monaten oder sogar Jahren verlassen, um den Krieg in den Nachbarländern – Türkei, Libanon, Jordanien, um die am meisten belasteten zu nennen – abzuwarten. Doch das Ende ist nicht nur nicht abzusehen, neue Flüchtlingsströme rücken ständig nach. Dass sich ihnen vermehrt syrische Mittelstandsfamilien anschließen, also Menschen, die Vermögen zurücklassen, verstärkt die Hoffnungslosigkeit aller: Niemand erwartet, dass in Syrien in absehbarer Zeit annähernd Normalität zurückkehrt. Ganz im Gegenteil, soeben tauchen wieder neue Akteure – etwa Russland – am Rande des Schlachtfelds auf.

Keine Hoffnung auf Anschluss

Die Syrer, aber auch die Iraker geben ihre Heimat auf, nicht nur physisch. 2003, nach dem Sturz Saddam Husseins, und noch einmal 2011 durch den Ausbruch des Arabischen Frühlings, gab es Hoffnung, dass die Region Anschluss finden könnte – in politischer, wirtschaftlicher, sozialer Hinsicht. Diese Hoffnung ist für die mittelbare Zukunft zerstört.

In den Kriegsjahren im Irak ab etwa 2005 war zu beobachten, dass Leute weggingen, sich jedoch die Option für eine Rückkehr offenhielten: Oft deklarierten sie ihre Flucht nicht einmal, schon allein deshalb, damit niemand ihr zurückgelassenes Eigentum als "frei" ansehen konnte. Heute – hört man, quantifizieren lässt sich das natürlich noch nicht – schließen mehr Flüchtlinge völlig mit ihrer Vergangenheit ab. Was sie haben, wird verkauft – da werden jetzt wieder ein paar Gesellschaftssektoren sehr reich -, auch um die immer teureren Schlepperhonorare bezahlen zu können.

Sie sehen Europa nicht als Warteraum, sie kommen, um zu bleiben. Und es sind nicht die Schlechtesten. Was nichts daran ändert, dass auch die "Angry Young Men" des Nahen und Mittleren Ostens im Strom mitwandern: Modernisierungsverlierer in ihren eigenen Ländern, durch lange Kriege Entwurzelte und Entkulturalisierte, die ihre Frustration – und den ihnen eingebläuten prämodernen Islam – mitbringen und, wenn sie ihrer Wut Ausdruck verleihen, als sozial nicht kompatibel angesehen werden.

Um sie besser zu verstehen, müsste man sich nicht nur die aktuellen Ursachen der Flucht, sondern jene für die Konflikte ansehen: natürlich die hausgemachten, aber auch jene angefangen vom Klimawandel über die Folgen der neoliberalen Wirtschaft bis zu den regional- und geopolitischen Machtspielen. (Gudrun Harrer, 19.9.2015)