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Die ungarische Polizei versucht Flüchtlinge vom Grenzübergang in Horgos mit Wasserwerfern zu vertreiben.

Foto: REUTERS/Marko Djurica

"Serbien, Serbien", brüllen die jungen Männer und laufen in Gruppen auf den Grenzzaun zu. Die serbischen Polizisten sind unter den Flüchtlingen die Helden, weil sie nicht eingreifen, weil sie nicht zuschlagen, weil sie die Leute einfach Richtung Ungarn laufen lassen. Man möchte meinen, man sei unter serbische Fußballfans geraten.

Am Mittwochnachmittag eskaliert die Situation an der ungarisch-serbischenGrenze, nachdem Ungarn den Grenzzaun dicht gemacht hatte. Flüchtlinge treten Absperrungen ein, drängen auf den Grenzübergang zu und rufen:_"Öffnet das Tor! Öffnet das Tor!" Die ungarische Polizei reagiert mit Tränengas-Beschuss. Dann werfen einige Flüchtlinge Steine, Latten, alles, was am Boden liegt, gegen die Polizisten.

Das Tränengas bringt die Menge auf einmal zum Laufen. Viele husten. Die Lungen brennen. Menschen liegen plötzlich am Boden, einige sind verletzt. Rettungswagen fahren herbei. In der Luft kreisen ungarische Militärhubschrauber. Kinder schreien. Männer pfeifen wieder zum Anlaufen gegen die Grenze. Die ungarischen Polizisten in Schwarz mit Helmen und Schutzschildern stehen in mehreren Reihen. Wenn die Flüchtlinge näher kommen, rennen sie auf sie zu.

Decken, Autoreifen, Plastikschuhe brennen in Haufen auf dem Asphalt. Es sieht aus wie nach einer Straßenschlacht. Es ist der Tag eins, nachdem der ungarische Staat die Grenze dichtgemacht hat. Es ist der Tag eins eines neuen Gesetzes, wonach Leute, die illegal nach Ungarn einreisen, für ein paar Jahre ins Gefängnis kommen können.

Verhaftet nach Übertritt

Auf der anderen Seite des Stacheldrahts hat man von diesem Gesetz gehört und davon, dass hier niemand mehr durchkommt. Bloß glaubt man das nicht wirklich. Obwohl ein paar Flüchtlinge die versucht haben hier bei Horgoš auf die ungarische Seite zu kommen, verhaftet worden sein sollen. "Wir warten so lange, bis das Tor wieder aufgeht. Und wenn wir hier bis zu unserem Tod warten müssen. Wir warten", sagt Mohammed Ibraheem, ein 26-jähriger Journalist aus Bagdad, der mit drei seiner Freunde vor 25 Tagen aus dem Irak aufgebrochen ist. Man hat das Gefühl, dass die Flüchtlinge – es sind etwa zu 90 Prozent junge Männer – alles tun werden, um hier über die Grenze zu kommen. Viele von ihnen stammen aus Syrien, aber auch einige aus Zentralasien.

Herr Ibraheem hat auf einem USB-Stick sein "Leben" – Dokumente – mit auf die Reise genommen. Den USB-Stick trägt er am Bauch, in Plastik eingewickelt. Mehr hat er nicht mehr zu verlieren. Den Umweg Richtung Deutschland über Kroatien will er nicht machen. "Dazu habe ich kein Geld mehr", sagt er.

Etwa 150 Flüchtlinge kamen am Mittwoch bereits über die serbisch-kroatische Grenze bei Šid in die EU, weil sie gehört haben, dass Ungarn die Grenze dichtmacht. Doch viele wollen die Route nicht nehmen, weil sie sich vor Minen fürchten. Kroatien will nun einen Korridor für die Flüchtlinge einrichten, Slowenien lehnt einen solchen jedoch ab. Kanzler Werner Faymann trifft sich heute mit seinem slowenischen und kroatischen Amtskollegen, Miro Cerar und Zoran Milanović, um die Politik zu koordinieren.

Hoffen auf Merkel

Ibraheem hofft aber, dass die Grenze zu Ungarn ohnehin wieder aufgeht. "Am Ende wird uns Angela Merkel helfen, weil sie so eine liebenswürdige Frau ist." Die Meinung, dass die deutsche Kanzlerin so etwas wie eine allmächtige Heilige ist, ist unter den Hunderten Flüchtlingen, die hier festsitzen, weit verbreitet. "Sind Sie sicher, dass auch Angela die ungarischen Tore nicht öffnen kann?", fragt etwa Mirna Sheh aus Aleppo. Sie hat heute Geburtstag, ist gerade 25 Jahre alt geworden. Die Frau, die Zahnmedizin studiert, spricht Deutsch, weil drei ihrer Brüder in Ludwigshafen leben.

Von der neuen Fluchtroute über Kroatien und Slowenien hat Frau Sheh gehört, aber in Horgoš gibt es noch niemanden, der den Transport dorthin organisieren würde. Flüchtlingshelfer verteilen Wasser, Essen und Kleidung. Manche Menschen liegen im Gras vor den geduckten pannonischen Häusern, in deren Vorgärten ansonsten nur Gänse watscheln. Hier aus dem multikulturellen Horgoš kommt der 2003 verstorbene Schriftsteller Aleksandar Tišma, der in unbarmherziger Deutlichkeit die Folgen des Zweiten Weltkriegs, die Dehumanisierung und Vertreibung beschrieb. "Die Menschen sind zu allem fähig, aber den meisten ist es nicht bewusst", ist bei ihm etwa zu lesen. (Adelheid Wölfl aus Horgos, 16.9.2015)