Von Yambio aus 30 Minuten mit dem Jeep auf den für tropische Gebiete so typischen rotbraunen Lateritstraßen durch den Dschungel brettern, dann tauchen links und rechts des Weges Häuser auf – Holzstämme, auf denen spitze Strohdächer befestigt sind. Hier in Kidi, am südwestlichen Rand des Südsudan, nahe der Grenze zum Kongo, sind die Einwohner sicher vor dem Bürgerkrieg, der das jüngste Land der Welt seit Dezember 2013 plagt. Ob das neueste, vor wenigen Wochen abgeschlossene Friedensabkommen hält, ist fraglich. Auf alle Fälle spielen sich die Kämpfe zwischen Regierung und Rebellen vor allem im Norden ab.
In Kidi lehrt eine andere Gefahr die Menschen das Fürchten: Joseph Konys Lord's Resistance Army (LRA). Soldaten von vier verschiedenen Streitkräften versuchen seit Jahren, den international gesuchten Terroristen und seine Armee zu schnappen – ohne Erfolg. Deshalb formierte sich eine Bürgerwehr, um die Bevölkerung vor den überraschenden Angriffen aus dem Hinterhalt zu schützen: Arrow Boys, die Bogenschützen.
Angst? Natürlich hat Mary Williams Angst. Wer könnte es ihr auch verdenken? Die sechsfache Mutter hat bereits zwei Angriffe der LRA miter- oder besser gesagt überlebt. Verloren hat sie dabei viel, zum Glück aber nicht ihre Kinder, sagt sie und lächelt schüchtern, während ihr jüngster Sohn, der einjährige Elias, brav und still auf ihrem Schoß sitzt. Das kleine Dorf Kidi mit seinen rund 20 Haushalten liegt – 17 Kilometer von Yambio, der Hauptstadt des Bundesstaates Western Equatoria und somit den Sicherheitskräften entfernt – ungeschützt wie auf dem Präsentierteller. Die LRA musste nur noch zugreifen – was sie auch mehrmals tat, zuletzt im August 2014 und Februar 2015.
Die Schergen Konys agieren überfallsartig. Sie tauchen überraschend auf, morden und brandschatzen, um nur wenige Stunden später genauso schnell wieder zu verschwinden. So geschehen auch im Sommer des vergangenen Jahres. "Ich war gerade im Haus meines Onkels, als sie mein Haus angriffen. Ich habe die Kinder genommen und bin geflüchtet. Ich hatte aber keine Ahnung, wo mein Mann war, ob sie ihn erwischt haben", schildert Williams den Angriff und ihre Ängste. In sicherer Umgebung fand sie schließlich ihren Gatten. Unversehrt.
"Die LRA nimmt alles"
Nicht mehr entkommen konnten zwei Schwestern von Joyce Aric, die apathisch und mit monotoner Stimme von dem Verlust ihrer Verwandten spricht. "Die LRA nimmt alles mit, vor allem junge Frauen, und dann ist sie wieder weg. Die Entführten werden vergewaltigt und dann ermordet", sagt Aric, die nicht davon ausgeht, dass ihre jüngeren Schwestern noch leben. Nur wenigen Opfern ist es bisher gelungen, Konys Armee zu entkommen. Wurden sie von LRA-Kämpfern geschwängert und tragen das Kind aus, wie es bereits vorgekommen ist, dann werden die Frauen vom Dorf verstoßen, heißt es unter vorgehaltener Hand. Offen spricht man darüber hier in Kidi nur ungern.
Bei all dem Unglück, das den Bewohnern Kidis bereits widerfahren ist, gibt es einen Hoffnungsschimmer. Bewaffnet mit den namensgebenden archaischen Waffen und zumeist selbstgebastelten Vorderladern haben sich die Bauern in der Region zu den Arrow Boys formiert, um der LRA Paroli zu bieten. Der Name geht zurück auf eine Bürgerwehr im Königreich der Azande, das vor Jahrhunderten im heutigen Dreiländereck Südsudan / Kongo / Zentralafrikanische Republik existiert hat.
Die Arrow Boys haben sich seitdem nie wirklich aufgelöst. Sie formieren sich offenbar immer dann, wenn sie benötigt werden. Im Sezessionskrieg des Südsudan mit dem Sudan unterstützten sie die Rebellen. Im Naivasha-Abkommen, das den Krieg 2005 schließlich beendete, wurde um des Friedens willen die Entwaffnung der Arrow Boys festgelegt. Das erklärt auch die dürftige Ausrüstung zehn Jahre später. Vorderlader sowie Pfeil und Bogen gingen bei der Entwaffnung als Jagdwaffen durch. Im Kampf gegen die LRA, die unter anderem mit Maschinengewehren angreift, sind sie aber besser als nichts.
Unterschlupf der LRA
Für Kony und seine LRA dient diese Region als eine Art Unterschlupf. Ursprünglich als Widerstandskämpfer in Uganda aktiv, wollte er dort einen christlichen Gottesstaat auf Basis der Zehn Gebote errichten. Zu diesem Zweck soll die LRA zehntausende Menschen ermordet und etwa 66.000 Kinder entführt und als Soldaten missbraucht haben. Von der ugandischen Regierung letzten Endes aus dem Land gejagt, treibt die LRA nun im Kongo und im Südsudan ihr Unwesen – mit geschätzten 300 bis 400 Mann als Kern und unzähligen Mitstreitern. Seitdem sind Soldaten aus dem Südsudan, aus Uganda und von der Afrikanischen Union sowie 100 US-Elitesoldaten nahe Yambio stationiert, um Kony, der mit einem Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gesucht wird, endlich habhaft zu werden. Doch bis diese Streitkräfte im Fall eines Angriffs zum Ort des Geschehens kommen, ist die LRA schon längst wieder im Dickicht des Dschungels verschwunden.
Im Südwesten des Südsudan hat die LRA mittlerweile geschätzte 4000 Menschen getötet oder entführt. Elisa Daudi hat es dann irgendwann gereicht. "Immer wieder ist die LRA gekommen und hat alles zerstört. Ich wollte die Menschen beschützen, deshalb bin ich ein Arrow Boy geworden", sagt der 35-Jährige, der mit Gummistiefeln, Arbeitshose und kariertem Hemd wie der nette Bauer von nebenan aussieht. Dabei ist er der Ortschef der Bürgerwehr in Kidi und erklärt nicht ohne Stolz, dass sie erfolgreich seien, weil die LRA hier im Vergleich zu früher kaum noch angreift. Die Taktik der Verteidigung ist simpel: Erfolgt ein Angriff der LRA, informiert der betreffende Ortschef mittels eines elektronischen Alarmknopfes auf seiner Brust die Mitstreiter in der Umgebung, die sofort zu Hilfe eilen und die Angreifer umzingeln.
Anzahl der Arrow Boys unklar
Wie viele Arrow Boys es gibt, ist ein großes Geheimnis – genauso, wie viele bereits im Kampf gegen die LRA gefallen sind. Man will dem Feind keinen strategischen Vorteil verschaffen. Vermutlich sind es alle Bauern zwischen 18 und 50 Jahren in der Region, sagt Matthias Fettback. Der 60-jährige Deutsche besitzt jahrzehntelange Erfahrung in Afrika und arbeitet derzeit als technischer Berater für die Caritas Österreich im Südsudan. Unter anderem ist er für ein Landwirtschaftsprojekt in Kidi verantwortlich, damit sich die Einwohner selbst ernähren können. Was er auf alle Fälle weiß, ist, dass die Kommandozentralen der Arrow Boys die Häuser mit den fast bis an den Boden gehenden Dächern sind. Und dass sie von der südsudanesischen Zentralregierung skeptisch betrachtet werden.
Denn obwohl die Arrow Boys der südsudanesischen Armee unter die Arme greifen, stört es die Obrigkeiten in der Hauptstadt Juba, dass einige nur spärlich ausgerüstete Bauern erfolgreicher sein sollen als das eigene Militär. Das behauptet auf alle Fälle Bangasi Joseph Bakasoro, ehemaliger Gouverneur von Western Equatoria: "Die Soldaten bleiben in ihren Kasernen, anstatt zu patrouillieren, und können von dort die LRA natürlich nicht bekämpfen. Die haben dann ein Problem damit, dass die Arrow Boys so effizient sind."
Der andere Grund für die überschaubaren Sympathiewerte der Arrow Boys in Juba hat mit dem Bürgerkrieg zu tun. "Western Equatoria hält sich nicht an die Mobilmachungsbestimmungen der Zentralregierung. Die sagen, wir haben keinen Konflikt, wir wollen auch nicht Teil davon werden, wir wollen uns selbst verteidigen", sagt Fettback, "deshalb müssen die Arrow Boys nun als Sündenböcke herhalten."
Hier setzt die Angst wieder ein. Die Angst davor, dass die Arrow Boys durch diesen politischen Konflikt zwischen Juba und Yambio geschwächt oder gar aufgelöst werden. Zwischendurch kam es sogar zu Kämpfen zwischen Teilen der südsudanesischen Armee und den Arrow Boys. "In dem Moment, in dem die Arrow Boys geschwächt werden, schlägt die LRA wieder zu. Die wartet nur darauf", warnt Fettback. Jeder Angriff sei ein schwerer Schlag für die in Kidi mühsam aufgebaute Infrastruktur, sagt er. "Die Zweifel, dass die Lage endlich einmal stabil bleibt, sind so groß, dass auch nur das kleinste Gerücht zu einem großen Wirbel führt."
Schon jetzt leidet die Landwirtschaft unter dieser unsicheren Situation. Vieles ist zum Erliegen gekommen, und das hat weitreichende Auswirkungen. Western Equatoria gilt nämlich als Kornkammer des Landes, mit dem Potenzial, den gesamten Südsudan ernähren zu können. Dass aufgrund des Bürgerkriegs bis zu 4,5 Millionen Menschen im Land Hunger leiden, macht die Situation in Western Equatoria umso bitterer.
Auf Nachfrage erklärt Mary Williams, warum genau sie Angst hat. Es gebe Gerüchte, dass die LRA bald wiederkomme. Sie wurde an der Grenze gesichtet, nicht weit weg von Kidi. Und die Arrow Boys, sagt sie, können auch nicht immer da sein. (Kim Son Hoang aus Kidi, Titelfoto: APA/Helmut Fohringer, 30.9.2015)