Es kann natürlich sein, dass die Regierung in Berlin sich auf ihre christlichen respektive sozialdemokratischen Wurzeln besonnen hat, als sie vor mehr als einer Woche die Regelung für syrische Flüchtlinge geändert hat. Verzichtete man beim Nachbarn doch plötzlich auf die sogenannte Dublin-Regelung und öffnete die Grenzen, anstatt darauf zu beharren, dass jene EU-Staaten, in denen die Syrier erstmals Unionsboden betraten, auch asylbeamtshandelt werden.

Doch es sind Puzzleteile, die eine Hidden Agenda denkbar machen – dass es nicht allein um Nächstenliebe und Solidarität mit den europäischen Partnern geht. Zunächst kam der Regierungsvorstoß offensichtlich für alle überraschend. Nicht nur für Ungarn und Österreich, auch innerhalb Deutschlands wurden Länder und Kommunen nicht vorab informiert, so scheint es.

Kurz darauf einigte sich die CDU/CSU-SPD-Koalition darauf, das Budget für Flüchtlingshilfe im kommenden Jahr gleich um sechs Milliarden Euro aufzustocken. Geld, das nicht etwa dem klammen UN-Flüchtlingshochkommissariat zukommen soll, damit dieses die Flüchtlinge in Syriens Nachbarstaaten versorgen kann. Oder in Griechenland und Italien Erstaufnahmezentren finanziert. Nein, das Geld bleibt in Deutschland und soll auch in Integrations- und Bildungsmaßnahmen gesteckt werden.

Eine durchaus erfolgssprechende Investition. Denn Syriens Jugend zwischen 15 und 24 Jahren weist laut UN eine Alphabetisierungsrate von 96,4 Prozent auf, praktisch westliches Niveau – beste Voraussetzung für Spracherwerb und Lernerfolg.

Kurz nach der überraschenden Grenzöffnung kündigte Daimler-Chef Dieter Zetsche an, in Flüchtlingslagern nach Mitarbeitern suchen zu wollen. Auch die Chefs von Porsche und der Post hofften öffentlich auf gute Kräfte. Andere Industriebetriebe überboten sich mit dem Lob auf die Chance durch Zuwanderern.

Vier Tage nach diesen Aussagen sekundierte Merkel und plädierte für einen möglichst raschen Zugang anerkannter Flüchtlinge zum Arbeitsmarkt. Da die Anerkenungsquote für die Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Nahen Osten praktisch hundert Prozent beträgt, würde das bedeuten, dass alle die gebraucht werden, auch arbeiten können.

Und kurz darauf wird die freie Einreise für bisher rund 60.000 Syrer genauso überraschend gestoppt, wie sie eingeführt worden ist. Da man plötzlich wieder auf die Einhaltung der Dublin-Regeln pocht und erklärt, eigentlich überhaupt nicht zuständig zu sein.

Das alles kann Zufall sein und ein Ausdruck der temporären deutschen Barmherzigkeit sein. Genauso wenig kann aber ausgeschlossen werden, dass dahinter kühle Berechnung steckt. Und unsere Nachbarn darauf spekulieren, auf einen Schwung möglichst viele potenziell gut gebildete, beziehungsweise ausbildungsfähige, Arbeitskräfte ins Land zu lassen.

Hat man diese identifiziert, sind möglicherweise die derzeit heftig umstrittenen Quoten für die EU-weite Verteilung der Asylwerber beschlossen. Nach derzeitigen Plänen wären das 40.000 Menschen für Deutschland. Was bedeuten könnte, dass man mit Verweis auf die freiwillige Mehraufnahme eine Reduktion verlangt. Und dann könnte man die weniger Arbeitsmarkttauglichen möglicherweise elegant den Unionspartnern umhängen. (Michael Möseneder, 13.9.2015)