Wenn sich Soziologen um wirtschaftliche Themen bemühen, ist es mit Lob und Freude über die Errungenschaften der modernen arbeitsteiligen Wirtschaft schnell vorbei. Michael Carolan, Soziologieprofessor an der Colorade State University, beschäftigt sich in seinem Buch "Cheaponomics" mit den Schattenseiten der niedrigen Preisen – und derer fördert er zahlreich zutage. Carolans Interesse gilt dem "wahren Preis billiger Ware" – Cheaponomics, ist der Begriff, den er dafür kreiert. Bizarres Anschauungsmaterial für seine Vorlesungen und Bücher entdeckt der US-Amerikaner beim US-Einkaufsriesen Walmart, seinem "persönlichen Albtraum des Billigwahns" – ein Konsumtempel, der ihn nie enttäusche. Eines von Carolans Beispielen ist das folgende: ein Mikrowellenherd um weniger als zehn Dollar.

Man kennt den Preis, nicht den Wert

"Stellen Sie sich vor", schreibt Carolan: ein technisches Gerät, das tausende Kilometer entfernt irgendwo in China hergestellt worden ist. Das Gehäuse ist aus Kunststoff, der wahrscheinlich in China erzeugt wurde, auf Basis von Rohöl aus dem Nahen Osten. Der Stahl für die Ofenkammer ist möglicherweise ebenfalls chinesischer Herkunft. Die Mikrowellenröhre, das Herzstück des Geräts, wurde vermutlich ebenso in China hergestellt. Der Strom, der größte Teile der Fabrik des Herstellers versorgt, wird vermutlich aus Kohle erzeugt.

Bleiben noch die Rohstoffe, die für die Herstellung des Kartons verbraucht werden, in dem das Gerät dann über den Pazifik und durch mehrere US-Staaten reist, ehe es in der Filiale in Fort Collins, Colorado, Carolans Wohnort, landet. Ob das Verpackungsmaterial auch aus China kommt? Genau könne man das nicht sagen, so der Autor: vielleicht, vielleicht auch nicht. Klar ist: Am Ende steht das Ding um weniger als zehn Dollar im Supermarkt. Hätte ich den Herd gekauft, sagt Caolan, ich hätte ihn rechtmäßig erworben, bezahlt hätte ich ihn nicht. Cheaponomics heiße, dass man von allem den Preis kenne und von nichts den Wert.

Wer dafür bezahlt

Die Befürworter des derzeitigen Wirtschaftssystems seien schnell bereit, ihre Gegner als Sozialisten zu denunzieren, schreibt Carolan. Sie würden sich aber nicht klarmachen, dass auch sie in diesem Sinn Sozialisten seien. "Sie wollen nämlich die Gesellschaft für die Kosten des Wirtschaftssystems zahlen lassen, aber die Gewinne einigen wenigen vorbehalten." Auch das sei Sozialismus, allerdings ein weitaus perfiderer als jener der Gegenspieler.

Carolan will sich bewusst nicht politisch zuordnen. Denn, so meint er, auch Konservative wären letztlich über die Billigwarenwirtschaft entsetzt, würde man ihnen die ungeheuren Kosten vor Augen führen. Und die seien nicht gering. Man merke das an den Steuern, den verschmutzten Meeren, dem Klimawandel und den Gesichtern derjenigen, die "täglich mit Hunger, Krankheit und Krieg dafür bezahlen".

Billige Lebensmittel

Als Anschauungsbeispiel für die sozialen Kosten dient Carolan auch die Lebensmittelwelt. "Was bringen uns billigere Produkte, wenn die Löhne proportional ebenso schnell sinken wie die Warenpreise oder noch schneller?", fragt er. So sei der Kostenaufwand des Einzelnen für Lebensmittel in den USA seit 1970 beträchtlich zurückgegangen (in Europa übrigens auch): von 14 auf neun Prozent des Haushaltseinkommens. Der Mindeststundenlohn sei inflationsbereinigt um fast 50 Prozent gesunken. Diese Niedriglöhne würden zwar die Unternehmer erfreuen, allerdings müssten etwa die kalifornischen Steuerzahler jährlich 86 Millionen Dollar Sozialleistungen (Gesundheitswesen, Sozialhilfe, Wohngeld) an die 44.000 Beschäftigten von Walmart in ihrem Bundesstaat zahlen. Carolans Schlussfolgerung: Für Niedriglöhne zahlen alle Steuerzahler.

Billiges Öl, teures Gemüse

Was Carolan weiters saurer aufstößt: Nicht alle Lebensmittel sind billiger geworden. Während in den USA zwischen 1985 und 2000 Limonaden und Fette und Öle zwischen 15 und 25 Prozent billiger wurden, sei der Preis für frisches Obst und Gemüse um rund 40 Prozent gestiegen. Das niedrige Niveau lasse sich nur bei den Produkten halten, von denen man eigentlich wenig konsumieren sollte. Dass, wird viel davon konsumiert, das die Gesundheitssysteme teuer zu stehen kommt, versteht sich von selbst.

Am Ende diene diese Art des Wirtschaftens ohnedies nichts anderem als dem Versuch, das gegenwärtige Wirtschaftssystem zu stabilisieren und die Einkommensungleichheit zu bewahren, die es erzeuge. Cheaponomics, so Carolans Mutmaßung, besteht teilweise deswegen weiter, weil die Menschen hoffen, dass "lächerliche Hungerlöhne, ein instabiler Arbeitsmarkt und geringes allgemeines Wohlbefinden durch billigere Güter und Dienstleistungen ausgeglichen werden können". Aber so geht das nicht, ist der Autor überzeugt: "Letztere sind nicht ohne Bezug zu Ersteren, beide hängen in einer tödlichen Spirale miteinander zusammen. Cheaponomics ist eine todbringende Achterbahnfahrt, eine Reise zur Hölle."

Zeit für den Ausstieg

Der Autor hält die Zeit für einen Ausstieg gekommen. Seine Lösungsvorschläge sind nicht neu: weniger kurzlebige Ramschware, Zugang statt Besitz, realistischere Preise für Waren und Dienstleistungen, von denen man dann eben weniger hat. Kollaborativer Konsum, neue Formen des Managements gemeinsamer Güter, Mieten statt Kaufen, mehr Regionalität, Kreislaufwirtschaft. Eine bezahlbare Gesellschaft besitze weniger, könne sich aber mehr leisten, indem sie Konsum, Freizeit und Arbeit klüger und anders organisiert. (Regina Bruckner, 10.9.2015)