Magdalena Rawicka und Lukas Friesenbichler inszenierten ein Miniaturmodell des "Heart Cone Chair" von Vitra, den Verner Panton im Jahr 1959 entwarf.

Foto: Lukas Friesenbichler, Magdalena Rawicka

Auch wenn der Entwurf des "Heart Cone Chair" von Verner Panton schon mehr als 50 Jahre auf dem Buckel hat, stellt er trotzdem eine moderne Variante des klassischen Ohrensessels dar. Auf dem Bild ist er in Form einer Miniatur von Vitra zu sehen.

Foto: Lukas Friesenbichler, Magdalena Rawicka

Kein Ohrensessel im klassischen Sinn, und doch erfüllt der "Ball Chair" (hier ebenfalls als Vitra-Miniatur) von Eero Aarnio aus dem Jahre 1965 über alle Vorzüge eines massigen Rückzugsorts.

Foto: Lukas Friesenbichler, Magdalena Rawicka

Er hatte es nicht immer leicht, der massige Sessel mit der hohen Lehne, die sich nicht selten zu gepolsterten Ohren auswächst. Sagt man Ohrensessel, sehen viele Zeitgenossen einen älteren Herrn darin kauern, in eine Wolldecke gehüllt, vertieft in die Lektüre eines Klassikers, vielleicht die "Buddenbrooks". Ein dicker Kater schnurrt auf seinem Schoß, das Licht scheint aus einer bronzenen Stehlampe, und den Ton zur Szene macht das schwere Ticken einer Wanduhr oder das knisternde Feuer des Kamins. Kurz: Meist steht der Ohrensessel als Sinnbild für bürgerlichen, fast schon geriatrischen Rückzug ins Wohnzimmer.

Schwergewichts-Möbelklasse

Völlig zu Unrecht, wenn man sich diese Möbelgattung und vor allem seine modernen Vertreter genauer ansieht, die immer öfter wieder in heimischen Wohnzimmern Platz finden. Und Platz braucht's, denn der Ohrensessel ist der Weltmeister der Schwergewichts-Möbelklasse, egal, ob er auf massiven Holzfüßen oder Edelstahlbeinen zum Ruhen kommt. Man schiebt ihn nicht umher wie ein Beistelltischchen, rückt ihn nicht zur Seite wie einen fragilen Freischwinger. Der Standort für einen Ohrensessel, dieses großgewachsene Fauteuil, will überlegt sein, denn dieses Objekt hat eine dauerhafte Strahlkraft, die weit über das Klischee des Biedermann-Möbels hinausgeht.

Er ist das Synonym für Geborgenheit, denn egal, ob es sich um den eleganten "Wingback Chair" des britischen Meisterentwerfers Tom Dixon mit seinem Samtbezug in 15 Farben handelt oder die konservative Reminiszenz an den Ur-Ohrensessel, das Modell "Strandmon" von Ikea, dieses Möbel nimmt einen mit seinen Lehnen in die Arme, umhüllt einen. Es wird zum Traummöbel für alle, die zu viel um die Ohren haben und sich mit seiner Hilfe eine Relax-Insel schaffen, die gleichzeitig Ruhepol, Beobachtungsposten und Raumtrenner wird. Der Ohrensessel strahlt etwas Gütiges, Souveränes, Zufriedenes und Individuelles aus. So selbstverständlich man als Gast auf einem Esszimmer-Sessel, einem Sofa (eine Art Cousine des Ohrensessels) oder einer Eckbank Platz nimmt: sich in den Ohrensessel eines Gastgebers zu setzen, wird man sich, wenn überhaupt, zweimal überlegen. Dieses Möbel wirkt besetzt, auch wenn keiner darin sitzt.

Viel um die Ohren

Als eine Art Erfinder dieser Möbelgattung gilt im weiteren Sinne der englische König Charles II. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts entstand der sogenannte "sleeping chayre", ein Urahn des Ohrenmöbels, mit welchem der Monarch dem Puritanismus auch möbelhaft ein Schnippchen schlagen wollte. Während des Rokoko startete dieser Typus so richtig durch, in den 1920er-Jahren wurde er zum Must-have des gutbürgerlichen Wohnzimmers.

Dass das Möbelstück Ohrensessel, das im Englischen "Wing Chair" genannt wird, derzeit ein Comeback feiert, hat verschiedene nachvollziehbare Gründe. Wie beim modernen Perserteppich ist beim Ohrensessel kaum mehr die Rede von einem Spießerteil, denn gerade in der schnellen, stressigen Zeit sucht so mancher nach einem Offline-Rückzugsort, und was liegt da näher als dieses Möbel gewordene Hydeaway fürs Wohnzimmer?

Wirklich sitzen

Peter Teichgräber, Gründer des Unternehmens Prodomo, also seit mehr als 40 Jahren im Möbelgeschäft, hebt den Hochlehner bzw. Ohrensessel vor allem, was seine Funktion betrifft, hervor. "Ganz egal, wie weit wir zurückgehen, den Ohrensessel hat es immer gegeben, weil er das Möbel war und ist, in dem man wirklich sitzt und nicht nur ruht. Die meisten anderen Fauteuils haben sich inzwischen zu Ruhemöbeln entwickelt. Aber wirklich gesessen wird im Ohrensessel, wo man ganz in Ruhe auch seinen Kopf anlehnen kann.

Kurz: Der Ohrensessel ist kein notwendiges Möbel so wie manche andere auch, aber er ist eines, das der Bequemlichkeit desjenigen dient, der darin meist irgendeine Form der Bildungsanwendung ausübt." Dass es dieses Möbel zeitweise schwerer als andere hatte, begründet auch Teichgräber weitgehend mit dem bürgerlich-konservativen, also unmodernen Image des guten Stücks. Doch auch ihm ist klar, dass die Zeiten der stiefmütterlichen Behandlung des Ohrensessels vorüber sind, denn mittlerweile hat "jede bessere Firma so ein Ding im Programm", wie es der Möbelhändler, der eine ganze Reihe von Kollektionen in seinem Sortiment hat, formuliert.

Der kleine Diener

Versucht haben sich an der oftmals majestätisch, souveränen Raumskulptur Ohrensessel viele Gestalter (siehe Fotostrecke Ohrensessel). Reüssiert haben unter anderen Arne Jacobsen mit seinem "Egg Chair", Jamie Hayon mit dem Entwurf "Ro", Marc Newson mit seinem anthropomorphen "Felt", natürlich Hans J. Wegner mit seinem "Wing Chair" oder, um ein jüngeres Beispiel zu nennen, der Wiener Designer Marco Dessi mit seinem Sitzmöbel "Mono", ein solitäres Möbel mit kurz geschnittenen Ohren samt Fußhocker. Apropos: Der Fußhocker gesellt sich überhaupt sehr gern wie ein kleiner Diener zum Ohrensessel. Als Zwitterwesen zeigt sich das Möbel "Wink" von Toshiyuki Kita, das sich vom Sitzmöbel im Falle einer Müdigkeitsattacke in eine einladende Liege ummodeln lässt. Auf der ganzen Welt bekannt sind die englischen, ledernen Ohrensessel "Winchester", eine Art Winston Churchill der Möbelwelt, begehrte und nicht gerade günstige Sammlerstücke.

Auch Monica Singer und Marie Rahm vom Designstudio Polka haben Erfahrung, wenn es darum geht, ein Möbelschwergewicht in Form zu bringen. Für Wittmann entwarfen sie den Sessel "Bonnie", einen eleganten, ansatzweise wuchtigen Hochlehner, in dem es sich verweilen lässt. Über den Möbeltypus sagen sie: "Die Typologie des Ohrensessels erzählt 'von früher', von Langsamkeit, Beständigkeit, Sicherheit. Und dafür scheint gerade eine große Sensibilität vorhanden zu sein. Man möchte sich zurückziehen und fallen lassen. Die Sehnsucht nach Geborgenheit in einer sich schnell verändernden Welt sozusagen. Im Falle von 'Bonnie' beschäftigten wir uns im Rahmen der Recherche mit historischen Stücken und haben unserem Objekt in der Folge etwas Offeneres und Leichteres gegeben."

Kleiner Ausschnitt aus der großen Welt der Ohrensessel: Hochlehner "Bonnie" von Polka, "Wink" von Toshiyuki Kita und der "Wingback Chair" von Tom Dixon (von links).
Foto: Hersteller

Raum im Raum

Mateo Kries, Direktor des Vitra Design Museum, ortet schon seit längerem eine Renaissance des schweren, vielfältigen Möbelbruders: "Ich finde es diesbezüglich interessant, dass viele moderne Entwerfer sich mit dem Grundgedanken des Ohrensessels auseinandersetzen, auf die eigentlichen, klassischen Ohren aber weitgehend verzichten. Ihnen geht es mehr um den Sessel als Raumabgrenzung, denken Sie zum Beispiel an die "Alcove"-Sofas der Gebrüder Bouroullec, bei denen die Lehnen zu richtiggehenden Wänden werden und so den restlichen Raum von drei Seiten abschirmen.

Man kann in diesem Falle nicht mehr vom Ohrensessel sprechen, seine Idee wird aber durchaus fortgesetzt, bis hin zu einer modischen Computerästhetik." Der Museumsdirektor ortet einen wachsenden Bedarf an solchen Möbeln, die Räume abgrenzen, also ein steigendes Interesse am "Raum im Raum", an Möbeln, die auch Vertikalen in einer Räumlichkeit schaffen. Dieses sieht Kries im privaten Bereich ebenso wie im Umfeld von Büros.

Gekommen, um zu bleiben

Man sieht, der schwere Sessel mit ausgeprägtem Rückgrat steht für vieles. Nicht vergessen werden darf diesbezüglich auch seine Ausstrahlung in Sachen Dauerhaftigkeit. Ein solches Möbel ist gekommen, um zu bleiben. Man trennt sich von ihm, wenn überhaupt, viel schwereren Herzens als von den meisten anderen Einrichtungsgegenständen. Es hat das Zeug zum ehrwürdigen Erbstück.

Carlo Baumschlager vom renommierten Architekten-Duo Baumschlager Eberle sagt im Buch "Mein liebster Stuhl" (Verlag Callwey) über den "Egg Chair": "Der Egg-Chair von Arne Jacobsen verfolgt mich, seitdem ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. Ich schätze an ihm seine Qualität als Objekt ... er altert mit Noblesse im täglichen Gebrauch. Er überzeugt durch seine Nachhaltigkeit und verleitet mich zu dem Gedanken, dass es meinen noch geben wird, wenn es vieles nicht mehr gibt." Auch so ein Gedanke, der einem am ehesten in einer ruhigen Stunde auf dem heimeligen Planeten namens Ohrensessel kommen könnte. (Michael Hausenblas, Rondo, 11.9.2015)