Die Europäische Union wird die Flüchtlingskrise irgendwie meistern – zwar spät und mit vielen unsauberen Kompromissen, aber doch. Auch bisher ist Europa mit allen Herausforderungen fertiggeworden.

Die Gefahr ist weniger, dass der Flüchtlingsstrom die Union zerreißt. Selbst wenn die Zahlen weiter steigen, können Länder wie Deutschland und Österreich den Zustrom stemmen. Andere EU-Staaten werden früher oder später bei der Aufnahme einlenken. Die Fähigkeit zur Zusammenarbeit ist Teil der DNA des heutigen Europa.

Doch die Flüchtlingskrise heizt die EU-Skepsis an, und das bedroht die demokratische Grundlage für die europäische Integration. Allein die Bilder von Flüchtlingsmassen auf dem Kontinent machen den positiven Ausgang des kommenden britischen EU-Referendums zum Vabanquespiel, wie jüngste Umfragen und die Niederlage von Premier David Cameron gegen EU-skeptische Tories zeigen. Ein "Brexit" würde auch anderswo Schleusen öffnen.

Rechtspopulistische Parteien sind nicht nur in Österreich auf dem Weg zu Wahlsiegen; selbst wenn sie nicht an die Macht kommen, zwingen sie die etablierten Parteien, immer lauter nationalistische Töne anzuschlagen.

Das Paradoxe daran: Je weniger die EU-Staaten an einem Strang ziehen, desto schlechter kann die Union die Flüchtlingskrise meistern. Der Volkszorn über die angeblich hilflose EU wird so zur selbsterfüllenden Prophezeiung. (Eric Frey, 8.9.2015)