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Flüchtlinge beziehen ein provisorisches Zeltlager.

Foto: APA/Maurer

STANDARD: Können Kriegsflüchtlinge in der EU einen wirtschaftlichen Nutzen stiften?

Keller: Es gibt in Ansätzen eine Debatte – Arbeitgeberverbände drängen verstärkt auf eine großzügige Aufnahme von Flüchtlingen, weil wir Fachkräfte brauchen. Aber man muss aufpassen: Die Flüchtlinge kommen nicht, weil man Fachkräfte braucht, sondern weil ihnen nichts anderes übrigbleibt. Aber es ist schon wichtig, die Leute davon zu überzeugen, dass es langfristig auch wirtschaftliche Vorteile hat, wenn man gerade durch Bildung und Spracherwerb Flüchtlinge inkludiert.

STANDARD: Gibt es da Unterschiede zwischen Arbeitsmigration und Kriegsflüchtlingen?

Keller: Klar. Bei der Flucht kommen prinzipiell alle. Manche Flüchtlinge haben, nachdem sie die Schlepper bezahlt haben, noch Geld, um sich ein Hotelzimmer zu mieten. Andere kommen mit nichts in Europa an. So ist es auch beim Bildungsniveau.

STANDARD: Und Arbeitsmarkterwägungen? Hängt die ablehnende Haltung vieler Länder auch mit der Angst vor höherer Arbeitslosigkeit und niedrigeren Löhnen zusammen?

Keller: Alle Studien sagen, dass Flüchtlinge sehr motiviert sind, sich eine neue Existenz aufzubauen, und überdurchschnittlich viele Arbeitsplätze schaffen. Die konkreten Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hängen natürlich auch davon ab, ob Flüchtlinge die Chance bekommen, Bildung zu erwerben und die jeweilige Sprache zu lernen. Man muss aber dafür sorgen, dass auch bei Flüchtlingen gleicher Lohn für gleiche Arbeit gilt. Denn Dumpinglöhne wollen wir nicht.

STANDARD: Warum zögert die EU bei der Entwicklung einer neuen Migrationspolitik? Inwiefern spielt eine Rolle, dass dieselben Regeln dann auch für künftige Kriegs- oder Klimaflüchtlinge aus anderen Weltregionen gelten werden?

Keller: An Klimaflüchtlinge wird kaum gedacht, das wird aber wichtig werden. Klimaflüchtlinge bleiben aber in aller Regel in ihrer Herkunftsregion. Die EU braucht ein gemeinsames Asylrecht, damit Asyl nicht zum Lotteriespiel wird. Aber die EU braucht auch eine gemeinsame Einwanderungspolitik für Leute, die nicht Asyl beantragen wollen.

STANDARD: Wie würden Sie das Flüchtlingsproblem angehen?

Keller: Das Absurde ist, dass wir ein Asylsystem haben, aber keiner da reinkommt. Man müsste legale und sichere Zugangsmöglichkeiten schaffen sowie einen Verteilungsschlüssel, der sowohl gegenüber Staaten als auch gegenüber den Flüchtlingen fair ist. Wenn Flüchtlinge in einem Land Verwandte haben oder eine europäische Landessprache sprechen, sollte das auch berücksichtigt werden. So gesehen bin ich froh, dass viele Regierungen endlich erkennen, dass Dublin gescheitert ist. Vielleicht gibt es jetzt die Möglichkeit eines Neuanfangs. Europa hat im Inneren die Grenzen aufgelöst, aber für Flüchtlinge gelten sie weiterhin – das ist absurd.

STANDARD: Aber dann käme es zu Binnenmigration und einer ungleichen Aufteilung unter den Staaten.

Keller: Das muss nicht sein – und ist schwer vorherzusagen. Es gab eine spannende Untersuchung, die der Frage nachgegangen ist, wo Flüchtlinge hinwollen. Dabei kam heraus, dass es ganz unterschiedliche und vielschichtige Motive bei der Wahl des Ziellandes gibt und dass Flüchtlinge ziemlich gut informiert sind über die einzelnen Länder. Bei einer besseren Regelung in Europa kann es aber auch sein, dass Länder, die jetzt nicht attraktiv für Flüchtlinge sind – wie etwa Ungarn –, dann wieder attraktiver werden. Die Tatsache, dass Flüchtlinge mehrere Jahre im asylgebenden Land bleiben müssen, macht die Frage "Wo will ich hin?" so wichtig. Dann will man sicherstellen, dass man im richtigen Land landet. Wenn mit dem Asylbescheid auch die Niederlassungsfreiheit gültig würde, würde man Flüchtlingen und Mitgliedsstaaten viel Druck nehmen.

STANDARD: Zielt die EU-Politik auf mittelfristige oder langfristige Lösungen ab? Rechnen die Staaten damit, dass die Flüchtlinge bleiben werden?

Keller: Die meisten, die kommen, sind Flüchtlinge – daran kann es keinen Zweifel geben. Viele kommen sicher mit dem Gedanken, irgendwann zurückzukehren. Aber niemand hat bis jetzt eine Antwort auf den Krieg in Syrien gefunden. Und solange die dortigen Probleme nicht gelöst sind, kann man niemanden zurückschicken. Das gilt übrigens auch für Eritrea und andere Länder. Die Menschen werden hierbleiben.

STANDARD: Die bisherigen Maßnahmen der EU wirken sehr provisorisch.

Keller: Ich hoffe, dass wir mit diesem Notfallkram bald aufhören. Wir müssen anerkennen, dass wir langfristig mit dem Thema umgehen müssen. Wir müssen Inklusion bewerkstelligen und anerkennen, dass die Flüchtlinge dableiben und irgendwann Unionsbürger werden.

STANDARD: Wie realistisch ist das Bild, das Flüchtlinge und andere Einwanderer von Europa haben? Gibt es da Erwartungen, die einfach nicht zu erfüllen sind?

Keller: Das kommt vor, ist bei Flüchtlingen aber nicht relevant. Die fliehen aus Gründen, die ihr eigenes Land betreffen, und nicht aufgrund überhöhter Erwartungen. Andere Migrationsformen könnte man in der Tat durch bessere Information kanalisieren, um überhöhte Erwartungen auch zu vermeiden.

STANDARD: Also gemeinsame Grenzbehörden? Oder neue Einwanderungsregeln schaffen?

Keller: Einwanderung hat nichts mit Grenzen zu tun. Man kann Einwanderung auf viele Arten legal organisieren. Für Syrien könnte man einen Korridor schaffen, weil es in der Nachbarschaft liegt. Für Eritrea und andere Länder könnte man durch humanitäre Visa Fluchtwege schaffen: also ins Nachbarland und dort zu einer EU-Botschaft. Diese stellt dann ein Visum aus, das die Einreise in die EU zur Asylantragstellung erlaubt. Mit dem Visum könnten die Flüchtlinge dann einfach ins Flugzeug steigen und müssten nicht unzählige Grenzen illegal übertreten.

STANDARD: Warum wird das nicht so gemacht?

Keller: Es wäre ja möglich. Der Visakodex, auf den sich die Mitgliedsstaaten geeinigt haben, sieht diese Möglichkeit vor.

STANDARD: Aber in Kriegsländern würde das nicht gehen.

Keller: Für Syrer müsste man die Visumpflicht aussetzen. Das würde Menschenleben retten und Schleppern das Geschäft entziehen. Wenn man Syrer von der Visumpflicht ausnehmen würde, könnten diese einfach in der Türkei ins Flugzeug steigen. Aber das ist politisch nicht gewollt. Erst Orbán hat wieder gesagt, dass wir nicht alle reinlassen können.

STANDARD: Was ist die Rolle Deutschlands in der Flüchtlingsdebatte? Griechenland konnte man zwingen, das Sparprogramm fortzusetzen. Ginge das in der Flüchtlingsfrage gegenüber anderen Ländern auch?

Keller: Griechenland ist ein gutes Beispiel. Da hat Merkel aus ihrer Sicht etwas erreicht – auch wenn ich das Ergebnis ganz und gar nicht gut finde –, weil sie politisches Kapital eingesetzt hat. In der Flüchtlingsfrage hat sie das noch nicht getan, was sich aber ändern könnte. Zuletzt hat sie ein paar deutliche Aussagen getätigt – ich bin gespannt. Das Thema muss in jedem Fall Chefsache werden. Es braucht Druck auf die Mitgliedsstaaten, die sich einer Lösung verweigern – sowohl von den Regierungen als auch von den Bevölkerungen.

STANDARD: Wie setzt man Mitgliedsstaaten unter Druck, ohne dabei die Union zu riskieren?

Keller: Das geht schon, die wollen ja alle irgendwas. Die einen wollen in Brüssel etwas durchsetzen, die anderen zu Hause eine Wahl gewinnen. Das ist dann wie politischer Kuhhandel, aber das funktioniert ja sonst auch so. Bei der Flüchtlingsthematik gab es bisher nicht den politischen Willen, da hat man geschlafen. Wenn man will, ist immer etwas möglich. Man kann ja unwilligen Ländern finanziell helfen oder in anderen Verhandlungspunkten nachgeben.

STANDARD: Besteht die Gefahr, dass die Politik das Flüchtlingsthema nach den jüngsten Aufregungen bald wieder aus den Augen verliert, vor allem wenn im Winter die Routen teilweise unpassierbar werden und weniger Menschen in Europa ankommen?

Keller: Ja, durchaus. Man muss sich nur an Lampedusa erinnern. Aber diesmal glaube ich nicht, dass das so schnell abebbt. Es sind so viele Menschen unterwegs, dass bis in den Winter Menschen in Europa ankommen werden. Und die Türkei ist ja nicht weit weg von Griechenland. Diese Seeroute wird auch im Winter befahren werden. Der Rückgang an der Route über Libyen hängt ja auch mehr mit der eingeführten Visumpflicht in den Nachbarländern Libyens als mit der Jahreszeit zusammen. (Aloysius Widmann, 9.9.2015)