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Trauerfeier für den ertrunkenen Aylan. Auch seine Mutter und sein fünfjähriger Bruder starben.

Foto: AP/Dyck

Die britische Ukip verbreitet ein Video, das die Motive der Flucht infrage stellt.

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Zahlreiche Nutzer teilen diese Berichte mit hämischen Kommentaren auf Facebook.

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Verschwörungstheoretische rechtsextreme Blogs greifen das Thema auf.

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Es handelt sich um schockierende Fotos, die für viele Menschen ein Symbol für das Massensterben auf dem Weg nach Europa geworden sind: das Bild des dreijährigen Aylan, der auf der Überfahrt vom türkischen Bodrum auf die griechische Insel Kos ertrank, ebenso wie jenes Foto aus dem in der Nähe von Parndorf abgestellten Schlepperfahrzeug, in dem 71 Leichen entdeckt worden sind. Die Veröffentlichung beider Fotos durch Medien wird hitzig diskutiert, DER STANDARD hat sich in beiden Fällen dagegen entschieden. Andere, etwa die "Kronen Zeitung", "Bild" oder das "Profil", zeigten zumindest eines der zwei Fotos. Außerdem wurden die Bilder massiv im Netz verbreitet. So sind die toten Flüchtlinge in das kollektive Bewusstsein gelangt.

Wirkungskraft durch Lüge entziehen

Rechtsextreme Hetzer versuchen nun mit aller Kraft, den erschütternden Bildern ihre Wirkung zu entziehen. Im Netz ist vor allem eine Kampagne gegen den Vater des ertrunkenen Flüchtlingskinds zu beobachten. Fremdenfeindliche Kreise behaupten etwa, der Junge sei "ertränkt worden, weil der Vater neue Zähne in Europa wollte". Als Beweis dafür wird ein Video der nationalistischen britischen Partei Ukip genannt, in dem die in Kanada lebende Tante des verstorbenen Aylan interviewt wird. Tatsächlich erklärt diese darin, dass der Vater des Jungen "keine Zähne mehr hatte" und deshalb aus dem Flüchtlingscamp in der Türkei ausreisen musste. Sie hatte entsprechende Anträge bei kanadischen Behörden gestellt, doch die Bewilligung dauerte.

Zukunftschancen für Kinder

Deshalb riet sie, gemeinsam mit dem Großvater des Jungen, der Familie dazu, sich "für die Kinder und deren bessere Zukunft" nach Europa aufzumachen. Dort könnte sich die Familie dann auch um die medizinische Versorgung des Vaters kümmern, dessen Zähne von Kämpfern der Terrormiliz "Islamischer Staat" ausgeschlagen worden waren. Es würde also schon reichen, sich das Video genau anzusehen: Primär ging es der flüchtenden Familie darum, den jungen Kindern eine Zukunft zu ermöglichen. Außerdem wollte der Vater keine "neuen Zähne", wie es herablassend heißt, sondern brauchte dringend medizinische Versorgung. Ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat wird also zur Hetze verwendet.

Aufbruch aus Hoffnungslosigkeit

Wie UNHCR-Sprecherin Melissa Fleming am Sonntag in der ORF-Diskussionssendung "Im Zentrum" erklärte, ist die Masse syrischer Flüchtlinge, die sich nun in Bewegung setzt, mit der langen Wartezeit auf Besserung im Heimatland zu erklären. Eine Vielzahl der Syrer setzte ihre Hoffnungen auf eine Lösung des Konflikts zwischen moderaten Rebellen, Diktator Bashar al-Assad und der Terrormiliz "Islamischer Staat" und floh deshalb in Nachbarländer wie den Libanon oder die Türkei (dort befinden sich fast zwei Millionen syrische Flüchtlinge).

Doch nach mehreren Jahren haben sie diese Hoffnung aufgegeben und wollen nun aus den Massencamps (die teilweise pro Lager bis zu 100.000 Personen beherbergen) oder temporären Wohnmöglichkeiten in der Türkei gen Europa aufbrechen. Das UNHCR konnte 2015 bislang nur die Hälfte der Gelder sammeln, die für einen ordnungsgemäßen Betrieb der Camps in der Türkei nötig wären. Der Vater des verstorbenen Jungen erklärte laut Informationen des "Wall Street Journal", er habe in Istanbul für 17 Dollar pro Tag auf einer Baustelle gearbeitet. Zum Überleben habe dieser Betrag nicht mehr gereicht. Seine kanadische Schwester hatte ihm dann Geld überwiesen, um mit der Familie nach Europa zu fliehen. Seine Frau und seine Söhne wollte er nicht zurücklassen.

Türkei-Aufenthalt macht einen nicht zum Wirtschaftsflüchtling

Die Europäische Union nimmt Asylanträge von syrischen Kriegsflüchtlingen, die zwischenzeitlich in der Türkei waren, ohne Vorbehalte an. Diese werden nicht in die Türkei abgeschoben, auch wenn sie dort vor den Angriffen der Terrormilizen oder des Assad-Regimes in Syrien sicher waren. Dasselbe gilt sogar für EU-Mitglied Griechenland: Die Rückabschiebungen, die bei Erstankunft in dem Land gemäß der kontroversen Dublin-Verordnung eigentlich dorthin erfolgen müssten, sind "aus humanitären Gründen" ausgesetzt worden. Den Vater des ertrunkenen Aylan als Wirtschaftsflüchtling zu bezeichnen, nur weil er temporär in Istanbul Aushilfsjobs angenommen hatte, widerspricht jeder Logik der UNO-Flüchtlingsorganisation UNHCR. Als Kurde war die Familie auch in der Türkei Diskriminierung ausgesetzt.

Tod im Lkw wird angezweifelt

Aber auch im Fall der 71 erstickten Flüchtlinge, die in einem Schlepper-Lkw von Ungarn nach Österreich gebracht wurden, gibt es Zweifler. Die "Kronen Zeitung" hatte – ebenso wie die deutsche "Bild" – ein Foto mit einem Blick ins Innere des Lkws abgedruckt. Darauf sind zahlreiche Leichen zu sehen. Für eine beträchtliche Anzahl an Nutzern seien diese "zu gut durchblutet für Erstickungstote" oder würden eine "entspannte Position" aufweisen, die einem Todeskampf widerspreche. Außerdem vermeinen manche sogar, ein Bett im Lkw zu erkennen (dabei handelt es sich jedoch um Leichen, die aufeinander liegen).

Rechtsextreme Rede vom "Bevölkerungsaustausch"

Woher kommen solche zynische Verzerrungen der Fakten? Für viele "Asylkritiker" planen westeuropäische Regierungen mithilfe von Medien einen "Bevölkerungsaustausch". Sozialdemokratische oder konservative Regierungspolitiker wie Angela Merkel, Werner Faymann oder François Hollande wollten sich ihre Wiederwahl sichern, indem sie Flüchtlingen im Abtausch für deren Wählerstimme einen Aufenthalt ermöglichen und so den Aufstieg von rechten Politikern wie Heinz-Christian Strache (FPÖ), Marine Le Pen (Frankreich) oder Parteien wie eben der Ukip in Großbritannien verhindern, glauben diese Hetzer. Eine Verschwörungstheorie, die auch die Fotos toter Flüchtlinge miteinbezieht: Denn mit diesen solle "Asylpropaganda" erzeugt werden, damit die Bevölkerung "bei ihrem eigenen Austausch" mitmache – eine zynische Verdrehung der Realität. (Fabian Schmid, 8.9.2015)