Österreich und Deutschland haben das einzig Richtige getan, als sie am Wochenende die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge ohne bürokratische Hürden aufgenommen haben. Ein anderes Vorgehen hätte den Grundwerten unserer Gesellschaft eklatant widersprochen.

Aber das Aufwallen von Menschlichkeit zwischen Nickelsdorf und München bringt eine Lösung des Flüchtlingsproblems nicht näher. Der Strom nach Europa wird nicht abreißen, sondern eher weiter anschwellen. Das wirft neue Fragen auf, auf die derzeit niemand eine Antwort weiß.

So inakzeptabel der zynische Umgang der ungarischen Behörden mit den Flüchtlingen auch ist, in einem Punkt hat Ungarns Premier Viktor Orbán recht: Die deutsche Regierung hat zum jüngsten Exodus von Syrern über die Westbalkanroute nach Europa selbst beigetragen, indem sie sich bereiterklärt hatte, die Menschen aufzunehmen. Die jüngsten Bilder der Hilfsbereitschaft dürften noch mehr Familien aus den Elendslagern in der Region dazu verleiten, die gefährliche Reise ins gelobte Deutschland zu wagen.

Aber wie viele Asylwerber kann Deutschland aufnehmen, bevor die Ausländerfeindlichkeit aus dem Osten über das ganze Bundesgebiet schwappt? Wird Kanzlerin Angela Merkel auch dann noch "Wir schaffen das" sagen, wenn die Zahl der Neuankömmlinge heuer die Millionengrenze überschreitet – und kein Ende in Sicht ist? Die ersten Stimmen der Revolte aus der CSU deuten auf baldiges Ungemach. Und wie lange wird es dauern, bis deutsche Rechtspopulisten Zulauf erhalten wie Heinz-Christian Strache in Österreich?

Die von Berlin und Wien forcierte EU-Quotenlösung bietet genauso wenig Hoffnung wie der vergeblich geforderte Sondergipfel. Nicht nur, dass Osteuropa das Modell geschlossen ablehnt – selbst wenn der Juncker-Plan bezüglich der Aufteilung von bis zu 160.000 in Europa befindlichen Flüchtlingen umgesetzt werden könnte, bleibt die Frage offen, was mit jenen passiert, die jetzt erst ankommen.

Wie will die EU mit dem Flüchtlingsnotstand umgehen, der in Serbien droht, sobald Orbán die Grenze tatsächlich dichtmacht? Das Land ist ärmer als Ungarn und hat eine stärkere Tradition der Islamfeindlichkeit. Und wer wird dem völlig überforderten Mazedonien helfen, wenn Serbien selbst keine Flüchtlinge mehr hereinlässt? Was tun, wenn in den kommenden Herbststürmen noch mehr Schlauchboote in der Ägäis kentern? Vielleicht kann mehr Hilfe vor Ort die Menschen von dieser Flucht abhalten.

Manche sehen den Ausweg in einer europäischen Militärintervention in Syrien, um den Krieg zu beenden. Zu ihnen zählt nicht nur Außenminister Sebastian Kurz, der sich natürlich nicht beteiligen wird, sondern auch der britische Premier David Cameron; er will US-Luftangriffe gegen den "Islamischen Staat" unterstützen. Doch auch Russland erwägt eine Intervention – eine Ausweitung der Militärhilfe für das angeschlagene Assad-Regime. Das droht die kurz aufgekeimte Hoffnung auf eine diplomatische Lösung zu zerschlagen. Durch Eingriffe von außen wird der Konflikt noch verlängert – möglicherweise um viele Jahre.

Der Sieg des Anstands über die Schäbigkeit am Wochenende ändert nichts an der Rat- und Hilflosigkeit aller Beteiligten angesichts der größten Flüchtlingsbewegung unserer Zeit. Und je länger sie anhält, desto schwieriger wird es werden, solch eine Hilfsbereitschaft zu mobilisieren. (Eric Frey, 6.9.2015)