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Die Lehrbücher haben einen großen Einfluss auf die Unterrichtsgestaltung, glaubt Heidi Schrodt.

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Ein möglichst breiter gesellschaftlicher Konsens solle erzielt werden, meint Kurt Nekula aus dem Bildungsministerium

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Sieht die Zusammensetzung der Arbeitsgruppen für die Lehrpläne als Problem: Christa Koenne

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In den Hallen der Firma Medienlogistik werden dieser Tage die letzten Großkartons befüllt. Geschichte, Geografie, Deutsch, Mathematik – mehr als drei Millionen Stück Schulbücher mit einem Gesamtgewicht von mehr als 1600 Tonnen wollen von Wiener Neudorf aus den Weg zu den Buchhändlern und weiter zu den Schulen finden. Darunter auch The New You and Me. Der Klassiker aus dem Englischunterricht erschien zum ersten Mal 1997, als in den Lehrplänen die bis dahin zentrale Rolle der Grammatik durch den kommunikativen Unterricht abgelöst wurde.

In den Büchern wurde so ziemlich alles anders, auch bei den Hörbeispielen. "Unser Ansatz war: Das Tonmaterial, das wir für die ,listening comprehensions' brauchten, muss mit Kindern aufgenommen werden", sagt Michael Schratz, einer der You and Me-Autoren, und erinnert sich gerne an das Studio in der Abbey Road. Ja, das von den Beatles. Der Einfluss der Briten auf die Musikgeschichte? Kein geringer. Der Einfluss eines Lehrbuches auf die Umsetzung der Curricula? Ebenso.

Geheimer Lehrplan

"Das Schulbuch gilt in der wissenschaftlichen Diskussion als eine Art geheimer Lehrplan", sagt Schratz – heute Dekan der School of Education an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und Sprecher der Jury des renommierten deutschen Schulpreises, "aber das war uns damals noch nicht so bewusst." Auch Heidi Schrodt, rund 20 Jahre lang Schulbuchbegutachterin für den Fachbereich Deutsch, sieht in den Lehrmaterialien einen großen Einflussfaktor auf die Unterrichtsgestaltung: "Das Schulbuch ist für viele der Lehrplan." Daher würden viele Pädagoginnen und Pädagogen den eigentlichen Lehrplan gar nicht kennen.

Olivia Markl fand über die Initiative Teach for Austria in den Lehrberuf. Das hat ihr so gut gefallen, dass sie dabei bleiben möchte. Konventionellen Unterricht werden ihre Schüler allerdings kaum erleben. Sie ist der Ansicht, striktes Vorgehen nach dem Schulbuch führe zu "Faktenwissen statt zu profundem Verständnis". Markl: "Wozu man etwas braucht, steht nicht im Schulbuch."

"Das Buch wird fast zur Bibel"

Neben fortschrittlichen Lehrkräften wie Markl gebe es aber auch andere, gibt Schrodt zu bedenken: "Da wird das Buch fast zur Bibel." Ist folglich der Lehrstoff gottgegeben? Wer entscheidet darüber, was Kinder in einem so prägenden Lebensabschnitt wie der Schulzeit lernen sollen?

Kurt Nekula, Leiter der Sektion I im Bildungsministerium, die sich auch um Qualitätsentwicklung kümmert, nennt Fachdidaktiker von Universitäten und Pädagogischen Hochschulen, Fachbereichslehrer, Expertengruppen auf Bundes- und Landesebene, die sich kontinuierlich an die (Um-)gestaltung der Lehrpläne machen. In einer späteren Phase würden Sozialpartner, Schulpartner, Landesregierungen eingebunden, um einen "möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens" zuerzielen. Das gelingt nicht immer. So wetterte die Gewerkschaft in einer 1977 erschienenen Ausgabe der pädagogischen Taschenbuchreihe "Schulheft" die Gewerkschaft gegen den "Käsestoff" Latein.

"Tendenz zum Aufplustern"

Christa Koenne, Leiterin des Kompetenzzentrums für Didaktik der Chemie, sieht in der Zusammensetzung der mit den Lehrplänen befassten Gruppen die Ursache für deren "Tendenz zum Aufplustern". Denn Fachexperten seien zugleich auch immer "Fachegoisten". Mit dem Effekt, "dass es ein Zuviel an Wissen gibt, und gleichzeitig fehlt das Überblickswissen".

Koenne befindet: "Es braucht eine öffentliche Diskussion darüber, was wir wirklich brauchen." Mit Blick auf die Unterrichtspflicht betont sie "wir haben also auch eine hohe Verantwortung dafür, wofür wir einen Schüler verpflichten", also für die vermittelten Inhalte "und dass er diesen Anforderungen auch nachkommen kann". Die Lehrpläne in ihrer aktuellen Form hält sie für nicht erfüllbar. Über 276 Seiten erstreckt sich etwa der Lehrplan für Volksschulen in seiner Fassung von 2012. Da wird auch detailliert aufgelistet, welche "einfachen Sprechsituationen" ein Kind am Ende der vierten Schulstufe bewältigen können soll, darunter: "Jemanden grüßen. Sich verabschieden. Sagen, wer man ist. Jemanden ersuchen, etwas zu tun. Jemanden einladen. Sich am Telefon melden. Sich bedanken. Sich entschuldigen."

Auf halbem Wege steckengeblieben

Mit der Umstellung auf kompetenzorientierte Lehrpläne und der Konkretisierung jenes Wissens, das für die Neue Reifeprüfung relevant ist, kam es in den vergangenen Jahren zu den vorläufig größten Neuerungen. Für Heidi Schrodt ist das anfangs mutige Projekt aber auf halbem Wege stecken geblieben: "Kompetenzorientiert würde heißen, man einigt sich auf ein Bündel an Mindeststandards, die am Ende der Schulpflicht erreicht werden müssen." Stattdessen gebe es jetzt "fast willkürliche" Regelstandards.

Soll ein Schüler etwa zeigen, dass er einen Zeitungsartikel lesen kann, liefern die Bildungsstandards auch gleich eine detaillierte Beschreibung dessen, welche Fähigkeiten er für dieses Textverständnis benötigt. So kommt man am Ende der achten Schulstufe allein in Deutsch auf 52 Kompetenzen, die ein Schüler bis dahin erworben haben sollte.

Der finnische Unterschied

Finnischen Lehrkräften reiche eine Dreiviertelseite Physiklehrplan für die Unterrichtsgestaltung, weiß Schrodt. Schulpreisjuror Schratz ergänzt: "In Finnland hat jeder Schüler seinen eigenen Wochenplan." Aktuell startet im nördlichen Vorzeigebildungsland eine große Lehrplanreform, die medial bereits als Abschaffung der Schulfächer verbreitet wurde. Ganz so radikal ist es nicht, beruhigt man im finnischen Bildungsministerium – aber radikal schon.

Ab dem heurigen Schuljahr wird sich alles Lernen an sieben Kompetenzbereichen orientieren. Die reichen von "Kulturen kennenlernen" über "umfassende Informationsgewinnung", "Beherrschen der Informationstechnologien", Fähigkeiten für den "Aufbau einer nachhaltigen Zukunft", bis hin zum Kenntnisgewinn über "Arbeitswelt" und "Unternehmertum".

Spaß als Ziel

Die Finnen wollen im Leben lernen. Der Spaß, den jeder Schüler dabei haben soll, wird vom Ministerium explizit als Ziel genannt. Den Schulen traut man dabei einiges zu. Sie sollen ermutigt werden, ihre eigenen "innovativen Wege" zu finden, um die neuen Bildungsziele zu erreichen. Eine Testphase brauche es für dieses Vorhaben nicht. Stattdessen: Autonomie, allumfassend.

Autonomie ist ein gern benutztes Stichwort auch für die heimischen Schulreformer. Eines, worunter jeder gerne etwas anderes versteht. Was die Lehrpläne anlangt, will sich die Koalition jetzt darauf einigen, dass künftig "Abweichungen vom Lehrplan im Ausmaß von bis zu 25 Prozent" möglich sind.

Geht das nicht jetzt bereits? Schließlich soll der Lehrplan ja nur den Rahmen vorgeben, präzisiert durch Pflicht- und Erweiterungsbereiche. Und auch Sektionschef Nekula befindet, dass deren Vorgaben viel offener sind, als viele glauben. Mit jenem Viertel, das laut Konzept künftig frei gestaltbar sein wird, ist laut Ministerium eine autonome Schwerpunktsetzung an den einzelnen Schulstandorten gemeint.

Nächster logischer Schritt

Ex-Schuldirektorin Schrodt glaubt, dass es für solch ein Teamwork kaum Kultur in der Lehrerschaft gibt. Für Lehrbuch-Entwickler Schratz hat die Beibehaltung der "Unterteilung der Lebenswelt in Fächer" sowieso "immer eine gewisse Künstlichkeit". Didaktikerin Koenne sagt: "Einerseits bauen wir die Firma Bildungssystem neu, andererseits haben wir eine neue Personalausbildung. Was fehlt, ist eine Auseinandersetzung mit dem Produkt, das diese Firma entwickeln soll."

Im Bildungsministerium spricht man lieber von anderen Plänen. Nach der Kompetenzorientierung der neuen Lehrpläne sei es ganz wichtig, auch die Leistungsbeurteilung kompetenzorientiert zu gestalten. Für Kurt Nekula ist das jetzt "der nächste logische Schritt". Zuvor sollen noch andere Neuerungen ihren Platz im Klassenzimmer finden. So sind Lehrer zusätzlich zu den umfassenden Lehrplänen dazu verpflichtet, zwölf Unterrichtsprinzipien zu vermitteln. Das beginnt bei der Medienbildung, reicht über die Gleichstellung von Männern und Frauen bis zum Wissen über Umweltschutz. Diese fächergreifenden Themen stehen auf der To-do-Liste aller Lehrkräfte für alle Altersstufen und über alle Schultypen hinweg.

Unterrichtsprinzipien wenig bekannt

Dass in einer Studie des Politologen Peter Filzmaier aus dem Jahr 2008 ein Viertel der Lehrer kein einziges der Prinzipien nennen konnte, ändert nichts an deren Beliebtheit im Ministerium. In diesem Jahr hat Ministerin Gabriele Heinisch-Hosek (SPÖ) die Sexualkunde sowie die Politische Bildung überarbeiten lassen, das Prinzip der Wirtschaftserziehung kam neu hinzu.

Helmut Weiglhofer, Direktor der School of Education an der Universität Salzburg, erklärt sich das damit, dass "gesellschaftliche Anliegen, die aktuell wichtig für den Unterricht sind, auf diese Weise schneller und flexibler eingebracht werden können" – etwa bei der Flüchtlingsfrage. In Fällen wie diesen fordert Koenne eine viel deutlichere Lehrplansprache: "Ich wünsche mir eine Schule, die sich nicht davor drückt, diese großen Fragen in ihrer Komplexität zu benennen. Interdisziplinär." (Lisa Kogelnik, Karin Riss, 6.9.2015)