"Barbarischer Westen" steht in großen Buchstaben über dem Bild von der Leiche des dreijährigen Aylan Kurdi. Die türkischen Zeitungen zeigten sich am Freitag weiter entsetzt über die Tragödie von Bodrum und über die Blockade der Flüchtlinge im rechtsgerichteten Ungarn von Viktor Orbán, mit dem die konservativ-islamische Regierung in der Türkei doch bisher besonders gute Beziehungen unterhielt.

Staatspräsident Tayyip Erdogan und sein Regierungschef Ahmet Davutoglu wandten sich am Donnerstag mit scharfen Worten an die türkische Öffentlichkeit. Gewissenlos sei Europa, sagten sie, der Tod der Flüchtlinge in der Ägäis sei "Europas Sünde". Die Leiche des syrischen Flüchtlingskinds war am Mittwochmorgen am Ufer bei Bodrum entdeckt worden. Eine türkische Fotografin der Nachrichtenagentur AFP nahm das Bild auf, das dann um die Welt ging. Die Leichen der 27-jährigen Mutter Rihanna und von Aylans fünfjährigem Bruder Ghaled sollen unweit des Fundorts gelegen sein. Die Flüchtlinge hatten versucht, auf die griechische Insel Kos zu gelangen, doch ihr Boot war gekentert. Nur der Vater der vierköpfigen Familie überlebte. Abdallah Shenu wurde in einem türkischen Krankenhaus behandelt und Freitagmorgen mit den Leichen seiner Familie nach Sanliurfa geflogen. Die Familie wird in Kobane bestattet, der lange umkämpften Stadt an der syrisch-türkischen Grenze.

Neue Weltordnung

Erdogan kam im Zusammenhang mit der Flüchtlingstragödie auch auf die Reform des UN-Sicherheitsrats zu sprechen, eine ständig wiederkehrende Forderung der Schwellenländer. Die Zukunft von 196 Staaten auf der Welt könne nicht von fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats bestimmt werden, kritisierte er.

Allerdings wurde in der Türkei wegen des Tods der syrischen Buben auch schnell wieder Kritik an Erdogan laut. So gab Ertugrul Özkök, ein Kolumnist und ehemaliger Chefredakteur des Massenblatts "Hürriyet", dem konservativ-islamischen Staatschef eine Mitverantwortung für die Tragödie. "Wach auf, großer Mann", titelte er seine Kolumne am Donnerstag, die ihm sogleich ein Strafverfahren einbrachte. Ohne Erdogan selbst zu nennen, warf er dem Staatschef vor, dieser habe mit seiner verfehlten Nahostpolitik und seiner islamistischen Agenda den Krieg im Nachbarland Syrien und die Flüchtlingswelle nur angetrieben. Unter dem Eindruck der Justizermittlungen und einer gegen ihn gerichteten Twitter-Kampagne versuchte der bekannte Kolumnist am Freitag zu beschwichtigen. Er habe doch auch Bashar al-Assad gemeint und die Terrormiliz Islamischer Staat, schrieb Özkök und kündigte einen längeren Urlaub an, weil er diesen Sommer durchgearbeitet habe.

1,8 Millionen Syrer

Die Türkei nimmt mittlerweile fast die Hälfte aller Flüchtlinge seit dem Beginn des Kriegs in Syrien vor vier Jahren auf. Im August-Bericht des UN-Flüchtlingshilfswerks stand der Zähler bei mehr als 1,8 Millionen registrierten syrischen Flüchtlingen. Der überwiegende Teil von ihnen – 1,54 Millionen – lebt in türkischen Großstädten, rund 260.000 in den 23 Lagern entlang der türkisch-syrischen Grenze. In Wirklichkeit dürfte die Zahl der Syrer die zwei Millionen übersteigen, da sich nicht alle bei den Behörden registrieren. Zusätzlich zu den Syrern halten sich in der Türkei offiziell noch rund 200.000 Flüchtlinge aus anderen Kriegsländern auf, vor allem aus dem Irak (106.000), Afghanistan (50.000), dem Iran (21.000) und Somalia (4.100). (Markus Bernath, 4.9.2015)