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Die Schriftstellerin Sabine Gruber beschreibt für ihre nächste Prosaarbeit eine tödliche Bootsfahrt von der libyschen Küste in Richtung Europa.

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Es überlebten nur jene, die mit ihren Kräften sparten.

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Sabine Gruber, geb. 1963 in Meran, ist Schriftstellerin, lebt in Wien. Am 16. 9. ist im Literaturmuseum Wien zu Gast ("Reden vom Schreiben").

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Es schien, als prallten die Strahlen am Wasser ab, als wäre seine Fläche aus einer festen und harten Materie, wie bei einem Sprung aus hundert Metern Höhe, wenn der menschliche Körper nicht mehr einzutauchen vermag, ohne sich zu verletzen. Auch an jenem Tag sah es aus, als zerschellte das Licht auf dem dunklen, stillen Meer. Das Glitzern und Gleißen blendete die Frauen und Männer im Fischerkahn, die eng aneinandergedrängt dasaßen und schwiegen. Von den neunundvierzig Passagieren war nur noch einem der älteren Männer etwas zu trinken übriggeblieben, die anderen hatten ihren Flüssigkeitsvorrat aufgebraucht und die leeren PET-Flaschen von Bord geworfen. Fast alle der unter dreißig Jahre alten Bootsinsassen dösten vor sich hin oder hielten mit zusammengekniffenen Augen Ausschau nach dem Küstenstreifen, lediglich die Männer, die hinten saßen, wandten immer wieder den Kopf und blickten auf das v-förmige Muster der Kielwelle, zwischen deren Schenkeln gebogene Querwellen aufgespannt waren, die aussahen wie Gefieder.

Die Augen der Frauen und Männer waren von der salzigen Seeluft gerötet, die Haut brannte von den Tagen in der prallen Sonne.

Und nachts die hellen Sterne am Kohlehimmel. Die Kälte, die sich nach dem Sonnenuntergang auszubreiten begann, erst kaum merkbar, weil die Haut sich noch an die Hitze des Mittags und die Wärme des späten Nachmittags erinnerte, kroch nach und nach in die dünnen Anoraks, T-Shirts, Hosen und langen Röcke, biss sich darin fest, sodass die zwei Frauen mit den Zähnen zu klappern begannen, den Kopf auf die Brust sinken ließen und, ihre Scheu vergessend, noch näher an ihre Nachbarn heranrückten.

Wegweiser im Nichts

Von den 49 Passagieren, die in der libyschen Küstenstadt Zuwara an Bord gegangen waren, konnten nur vier Männer und eine Frau schwimmen. Mit Schiffen vertraut war niemand, nicht einmal die zwei offiziellen Steuermänner hatten Erfahrungen zur See gesammelt. Sie waren Ägypter, die vorgegeben hatten, sich auszukennen, in Wirklichkeit waren auch sie nie mit einem Boot aufs offene Meer hinausgefahren. Die beiden waren in den Augen der Fahrenden Hoffnungsträger, Wegweiser im Nichts, in der Weite des Meeres, Führer, denen alle vertrauten, weil sie für die Reise bezahlt und monatelang auf den – wie es hieß – idealen Tag gewartet und dafür eine große Summe an Madame Ganat entrichtet hatten. Keiner erzählte, dass Madame das Geld zweimal, bei der Aufnahme in deren heruntergekommenes, überfülltes Haus und viele Monate später beim Aufbruch nach Lampedusa, verlangt hatte, keiner sagte laut, dass man ihm sein letztes Erspartes, das für den Neuanfang in Italien gedacht gewesen war, aus der Tasche gezogen, dass er in der Aufregung der plötzlichen, seit Monaten herbeigesehnten, aber fast nicht mehr erwarteten Abreise widerstandslos die Dollarscheine an die Schlepper übergeben hatte, andernfalls wäre sein Platz in diesem besetzten Boot jemand anderem überlassen worden. Manche schwiegen, weil sie ohnehin niemand verstanden hätte oder weil die eigene Angst und die Ungewissheit über den Verlauf der Reise Aussagen dieser Art wenig glaubhaft erscheinen ließen.

Die zwei Ägypter hielten eine kurze Eisenstange in der Hand; vom älteren der beiden hieß es, er trüge noch eine andere Waffe bei sich. Sehr bald war allen klar, dass die Stangen keine der Bootsfahrt nützlichen Gegenstände waren, sondern als Waffe benutzt wurden, als Respekt verschaffende Schlaginstrumente, mittels deren die Bootsinsassen ruhig gehalten wurden.

Marik war 22, er stammte aus einem Dorf, durch das die Zugtrasse von Kairo nach Alexandria verläuft. Seine Familie lebte nahe den Geleisen; seine Schwester hatte ein totes Kind zu beklagen, das von einem durchrasenden Zug erfasst worden war. Dass die Lokomotivführer die Geschwindigkeit an dieser Stelle drosseln und durch laute Signale die Durchfahrt ankündigen, hatte den Tod des kleinen Mädchens und anderer Dorfbewohner nicht verhindern können.

Marik war weniger autoritär als Kamal, der nichts von sich preisgab, vermutlich weil er fürchtete, dass die anderen Frauen und Männer persönliche Äußerungen als Zeichen der Schwäche interpretieren würden. Kamal schrie von Anfang an, Marik nur, wenn Kamal ihn dazu aufforderte. Beide reisten gratis, weil Steuermänner immer gratis übersetzen. Kamals Haut war von dünnen schwarzen Haaren bewachsen, selbst das Gesicht wies mit Ausnahme der Augen-, Nasen- und Mundpartie dunkle Haarschatten auf.

Zwei Tage nach der Abreise, um sechs Uhr morgens, riss der Motorriemen. Die 24 Stunden zuvor waren ruhig verlaufen. Am Abend vor der Katastrophe waren die Wellen gewachsen; erstmals schaukelte das Boot heftig, es schien jedes Mal, als fiele es von einer hohen Welle in einen Abgrund. Wasser drang ein.

Nuruddin, der jüngste Somalier, fast 15, hatte sich übergeben und es nicht an die Bordkante geschafft. Die Nachtstunden erschienen lang, der Geruch des Meeres war intensiv, egal woher die Winde kamen, als habe das Erbrochene die Duftwolkendecke verstärkt. Sie erinnerte an Fäulnis, an Schwefel, und die am Morgen über dem Boot kreisenden Seevögel verstärkten die Vorstellung von verwesender Materie.

Nachdem die turbulente Nacht vorüber war, machte sich Erleichterung breit. Die meisten der Bootsinsassen dösten, als das Tuckern des Motors abrupt aussetzte; viele dachten wohl, sie hätten zwei Drittel der Fahrt und damit den größten Teil der Strecke hinter sich gebracht, sie schliefen aus Erschöpfung über die durchwachten unruhigen Stunden, wähnten sich schon in Sicherheit, weil sie sich nach dem hohen Seegang keinen noch höheren vorzustellen vermochten; sie sahen sich bereits an Land gehen, mit heilen Körpern und Zukunftsvorstellungen, die sie sich all die Jahre zuvor ausgemalt hatten, die ihnen geholfen hatten, die Strapazen und Entbehrungen auszuhalten.

Sogar die beiden Steuermänner reagierten nicht sofort, zeitverzögert hörte man sie fluchen, und die wacheren unter den Passagieren schrien alsbald wild durcheinander. Kamal hielt seine Eisenstange in die Höhe und drohte, diejenigen zu schlagen, die nicht stillhielten, denn die lauten Stimmen wurden von wilden Gebärden Richtung Motor begleitet. Die drei Syrer, zwei waren Brüder, hatten sich kurz erhoben, um sich einen Überblick zu verschaffen. Eine der beiden Frauen schoss ebenfalls in die Höhe, sagte aber kein Wort. Heftige Bewegungen konnten das Boot zum Kippen bringen; Marik deutete mit der Hand, alle mögen sich setzen. Kamal griff mit der Rechten in seine Hosentasche, zog die Pistole heraus.

Der ausgefallene Motor schien weniger Schrecken zu verbreiten als der Lauf der Schusswaffe. Die sichtbare Bedrohung zeigte sofortige Wirkung: Es herrschte Stille, angstvolles Staunen. Das unterdrückte Kreischen einer der beiden Frauen erinnerte an ferne Möwenschreie. Nuruddin bibberte wie im Fieber. Wie er nach Zuwara gekommen war, wusste niemand. Er sprach nur einige Fetzen Arabisch, ein paar Wörter Italienisch. Er war ohne Begleitung.

Die Steuermänner waren nicht in der Lage, den Motor zu reparieren. Nurrudin dämmerte vor sich hin. Am dritten Tag, an dem sich die Flüchtlinge mit der Strömung bewegten, bemerkte Nurrudin aus den Augenwinkeln, dass eine der beiden Frauen ihr Gesicht hinter den Händen versteckt hatte und tränenlos weinte. Am selben Nachmittag warteten die drei Syrer auf die Dunkelheit und darauf, dass Kamal geschwächt und übermüdet die Augen schließen würde. Sie überwältigten Marik und entwaffneten anschließend Kamal, um an den kaputten Motor heranzukommen. Tatsächlich schaffte es einer der Brüder, den Riemen notdürftig zu flicken und das Boot in Bewegung zu setzen.

Die Ausrufe der Freude hörte Nuruddin nicht mehr, auch nicht den Kommentar zweier Landsmänner, Kamal solle man ins Wasser werfen, er tauge nicht als Steuermann. Nuruddin war ohnmächtig geworden, die junge Frau vor ihm rüttelte vergeblich an seinen Beinen. Sie hörte damit auf, als der Riemen des Motors neuerlich riss.

Das Schiff trieb auf offener See. Es vergingen weitere vier Tage und Nächte. Die Niedergeschlagenheit und die körperliche Schwäche unter den Flüchtlingen waren inzwischen so groß, dass kaum einer der Bootsinsassen die Augen offen halten konnte. Nurrudins Tod blieb eine Weile unbemerkt, bis die jüngere der beiden Frauen gegen seine Beine stieß. Kamal durchforstete Nurrudins Kleidung, bevor er mithilfe zweier anderer die Leiche ins Meer warf. Wenig später hatte sich die junge Frau auf die Bordkante gesetzt und nach hinten fallen lassen. Sie war fast lautlos ins Wasser geglitten. Über eine Stunde hatten die am Rand sitzenden Bootsinsassen die tote Frau neben dem Kahn gesehen.

Es starben immer mehr Bootsinsassen an Erschöpfung und Austrocknung. Die Flüssigkeit entschwand über den Urin, den Stuhlgang, den Schweiß und die Atemluft aus ihren Körpern. Anfangs wurden die Toten noch mit Gebeten verabschiedet, dann warfen die Flüchtlinge die leblosen Körper schweigend ins Wasser.

Als zum ersten Mal die fernen Lichter eines fremden Fischerboots zu sehen waren, schöpften einige Männer und Frauen Hoffnung. Da sich der Kahn kaum von der Stelle bewegte, hatte Kamal die Idee, zwei oder drei sollten zum Fischerboot schwimmen, um Hilfe zu holen. Von denen, die schwimmen konnten, waren bereits zwei Männer tot, einer litt an Durchfall und war viel zu schwach. Kamal, der mit Unterstützung von Marik wieder in den Besitz seiner Waffen gelangt war, zwang zwei Nichtschwimmer, ihn zu begleiten. Er schüttete den Rest des Benzins aus den Blechfässern ins Meer und befahl einem Syrer und einem Somalier, sich an den Benzinfässern festzuhalten und Richtung Boot zu strampeln. Kamal begab sich zu ihnen ins Wasser, doch die Nichtschwimmer wurden von der Strömung abgetrieben. Mit letzter Kraft schwamm Kamal zum Flüchtlingsboot zurück. Er bat diejenigen, die im Fischerkahn geblieben waren, ihn an Bord zu ziehen. Er solle erst die beiden anderen zurückholen, sagten die syrischen Brüder, welche den Motor repariert hatten, erst dann würden sie ihm helfen. Kamal schwamm den beiden hinterher und ward nicht mehr gesehen.

Es überlebten nur jene, die mit ihren Kräften sparten und sich kaum bewegten. Einzelne deckten sich mit Leichen zu, weil es in der Nacht kalt geworden war oder sie legten sich auf die Toten, um nicht mit den Exkrementen auf dem Schiffsboden in Berührung zu kommen. Als der im Meer treibende Kahn von zwei Fischern entdeckt worden war, glaubten die beiden Italiener, sie seien auf ein Totenschiff gestoßen; erst nachdem sie in die Nähe des Kahns gekommen waren, hatten die Fischer leises Gestöhne und Gewimmer vernommen.

Der jüngere der syrischen Brüder war der Einzige gewesen, der noch einen Arm hatte heben können. Die anderen Flüchtlinge waren so schwach gewesen, dass sie nicht imstande waren, die Wasserflaschen und das Brot, das ihnen die Fischer zuwarfen, zu sich zu nehmen.

Im Hafen von Lampedusa wurden die Toten in Säcke gesteckt und weggebracht. Jemand bemerkte, dass sich der Körper einer jungen Frau, die man schon als tot angesehen hatte, bewegte.

Der Mann, der Djamila wieder aus dem Sack hervorholte, trug die Sonnenbrille in die Haare geschoben, obwohl Nacht war. Die Fünfzehnjährige war stark abgemagert, ihr Kopf schwankte. Sie sah kurz in das Gesicht des Mannes, schloss aber vor den sie anstrahlenden Taschenlampen und den Blitzlichtern wieder die Augen. (Sabine Gruber, Album, 5.9.2015)