Was will Viktor Orbán eigentlich? Diese Frage wird in Europa immer dringlicher gestellt. Im Umgang mit den tausenden Flüchtlingen, die über die Grenze aus Serbien strömen, fährt Ungarn eine unverständliche Zickzackpolitik, die weder dem Land noch den betroffenen Menschen irgendetwas nützt. Und Orbán holt sich dafür im Ausland verbale Prügel, die sogar die bisherige Kritik an seinem autoritären Führungsstil übertreffen.

Dabei lässt sich manches am ungarischen Vorgehen noch nachvollziehen. Mit dem Grenzzaun, den Orbán angesichts des Flüchtlingsstroms errichten lässt, erfüllt er nur das Schengen-Abkommen, das ihn zur Sicherung der EU-Außengrenzen verpflichtet. Bulgarien hat das etwa gegenüber der Türkei schon längst getan, und Ungarn zieht jetzt reichlich spät nach. Die Kritik vieler Politiker und Kommentatoren an Ungarns neuen "Zäunen und Wachtürmen" (Kanzler Werner Faymann) ist überzogen.

Wenn die ungarischen Behörden den jüngsten Zug aus Budapest wieder stoppen, um die Flüchtlinge in ein Aufnahmelager zu bringen, dann handeln sie unmenschlich, aber sie tun auch das Gegenteil von dem, was Griechenland vorgeworfen wird – nämlich die Menschen durchzuwinken, damit sie möglichst rasch das Land verlassen. Unter der Dublin-III-Verordnung ist Ungarn zu ihrer Registrierung verpflichtet und wird daran auch ständig erinnert. Ob man sie danach weiter nach Westen ziehen lassen wird, ist unklar. Ungarn will sie jedenfalls nicht bei sich haben.

Was macht das ungarische Vorgehen so verstörend? Erstens legt Ungarn eine erschreckende Inkompetenz an den Tag. Auch Österreich war mit dem Flüchtlingsansturm überfordert, aber so schlimm wie in Ungarn waren die Zustände in Traiskirchen nie. Doch statt Fehler einzugestehen, nutzt Orbán seit Wochen das Flüchtlingschaos, um die ohnehin schon nationalistische und ausländerfeindliche Stimmung mit Worten und Taten weiter anzuheizen und so auch gegen innenpolitische Gegner zu punkten.

Vor allem aber signalisiert der Premier jeden Tag, wie wenig er selbst dort von europäischer Zusammenarbeit hält, obwohl diese doch den einzigen Ausweg aus einer Situation bietet, die national nicht zu lösen ist. Dass Ungarn sich dagegen wehrt, von Brüssel eine Flüchtlingsquote nach einem Bevölkerungsschlüssel zugeteilt zu bekommen, ist noch zu verstehen. Auch andere Regierungen in Ostmitteleuropa weisen zu Recht darauf hin, dass sie weitaus weniger Ressourcen zur Integration von Flüchtlingen zur Verfügung haben als etwa Deutschland oder Österreich.

Dass aber ungarische Regierungsvertreter verkünden, sie können aus kulturellen Gründen keine Muslime aufnehmen, und Orbán den gesamten Flüchtlingsstrom zum "deutschen Problem" erklärt, weil sie dort anständig behandelt werden, macht deutlich, wie wenig der Fidesz-Chef von den Grundwerten jener Union hält, zu der sein Land gehört. Dafür, und nicht für den Bau des Grenzzauns, gehört Orbán kritisiert.

Nichts kann den Flüchtlingsstrom aus Nahost kurzfristig stoppen, und es lässt sich auch nicht verhindern, dass viele Bürger mit Ablehnung darauf reagieren. Aber eine vernünftige, konstruktive Haltung der Regierungen würde helfen, manche Emotionen zu dämpfen, das Leben der Ankommenden zu erleichtern und die EU – und damit ganz Europa – nicht als unfähigen Papiertiger erscheinen zu lassen. Orbán tut ganz bewusst das Gegenteil. (Eric Frey, 4.9.2015)