Jonathan Franzens neuer Roman erscheint diese Woche fast zeitgleich auf Englisch und Deutsch: "Unschuld" erzählt von den Verwerfungen eines Internetgurus.

Foto: Beowulf Sheehan

Wien – Das Internet und seine sozialen Spielwiesen beobachtet Jonathan Franzen schon länger mit Großschriftstellerskepsis. Sogar den österreichischen Polemiker Karl Kraus nahm sich der US-Schriftsteller in einem Essay zum Vorbild, um gegen die Ausformungen der digitalen Kultur und ihre Verteidiger zu argumentieren. In seinem aktuellen Roman Unschuld, der dieser Tage in den USA und in diversen Übersetzungen praktisch zeitgleich erscheint, hat er nun einen Whistleblower zu einer der zentralen Figuren erkoren. Allerdings handelt es sich um keinen scheuen Einzelgänger wie Edward Snowden, sondern um einen charismatischen Guru wie Julian Assange. Vom Wikileaks-Kopf versucht sich dieser Andreas Wolf mit seinem Sunlight Project freilich abzusetzen: Seine Botschaft von der Verbesserung der Welt darf kein Staubkorn trüben.

Gäbe es keinen Wolf – nicht der einzige allegorische Name in diesem Buch -, wäre Unschuld "nur" ein weiterer Familienroman Jonathan Franzens. Er würde von der jungen, ungefestigten und geistesgegenwärtigen Frau Purity erzählen (so der Originaltitel, der in der deutschen "Unschuld" verlorengeht), die bei ihrer Mutter, einer leicht manischen Aussteigerin, in Kalifornien aufgewachsen ist, durch ihr Studium Schulden angehäuft hat und nichts lieber kennen würde als die Identität ihres Vaters; diese nämlich wurde zeitlebens vor ihr geheim gehalten.

Andreas Wolf macht Unschuld jedoch zu einem konzeptuell ambitionierteren Roman, denn seine überall hinreichende Präsenz, sein von herkömmlichen Zwängen abgekoppeltes Leben gehören einer anderen Realität an. Franzen legt es auf eine Geschichte an, in der die virtuelle Welt längst in die materielle wie ein Geschwür hineingewachsen ist, sich beide Sphären also durchdringen. Um diesem Anspruch zu genügen, vernachlässigt er auch das Gebot der Glaubwürdigkeit und entscheidet sich für bildstarke Oppositionen.

Weltverbesserer in Bolivien

Die Wege von Purity (genannt Pip, da sie sich für ihren hehren Namen schämt) und Wolf hat Franzen so angelegt, dass sie aufeinander zulaufen. Wie schon in den früheren Romanen Die Korrekturen und Freiheit sind sie in eine noch umfassendere Montage von Figuren und Zeiten eingefügt. Pips Coming-of-Age-Geschichte führt sie über kurz oder lang in die Fänge des Weltverbesserers, der sein Headquarter in Bolivien aufgezogen hat. Während sie als schlagfertige, instinktsichere, der Aura Wolfs gewachsene Person umrissen wird, malt sich Franzen den Internetguru als Mephisto der Jetztzeit aus: Er wirkt weniger wie ein Mann als wie eine von ihrer Anziehungskraft besessene Entität, wäre da nicht sein sexueller Hunger (Cunnilingus!). Es versteht sich von selbst, dass er ein Heuchler ist, der seinem moralischen Imperativ nicht genügt.

Eine Schlüsselszene des Romans ereignet sich in Wolfs Jugend in der DDR, wo er einem in Not geratenen Mädchen mit einer Gewalttat hilft. Solcherart sind die Ironien, mit denen Franzen in Unschuld etwas zu großspurig verfährt: Ein Mann, der sein Arbeitsleben der Transparenz widmet, hegt selbst ein Geheimnis, das ihn nachgerade paranoid werden lässt.

Geheimnisse, die im Privaten beginnen und bis ins Professionelle reichen, finden sich in Unschuld an allen Ecken und Enden. Sie sind letztlich der Kitt, der die Figuren zusammenhält. Tom Aberant, ein Journalist aus Denver, verkörpert einen weiteren Gegenspieler von Wolf. Die beiden treffen kurz nach der Wende von 1989 aufeinander, um dann, verbunden durch eine gemeinsame Erfahrung, getrennte Wege zu gehen. Mit seiner Website, die sich Aufdeckergeschichten widmet, symbolisiert Aberant eine andere Politik als Wolfs Whistleblowertum. Doch Franzen nimmt diese Differenzen nur am Rande zum Anlass, um die Unterschiede dieser Medien zu erforschen. Ihn interessieren mehr die Männlichkeitsbilder: Denn so gnadenlos Wolf wirkt, der mit einem zweiten, mörderischen Ich in seiner Brust ringt, so behutsam und nachgiebig ist Aberant entworfen – eine Figur, mit der Franzen recht offen sympathisiert.

Sexuelle Unterordnung

Franzens Strategie, die weltanschaulichen Unterschiede seiner Figuren auf private Konstellationen herunterzubrechen, schränkt den Roman allerdings allzu sehr ein. Vor allem die Entscheidung, die Defekte seiner männlichen Protagonisten an ihren Frauenbeziehungen zu bemessen, wirkt irritierend. In ermüdenden Passagen lässt Franzen den Leser an Beziehungsroutinen teilhaben, in denen die sexuelle Unterordnung unter ein weibliches Regime die Potenz der Männer hemmt. Aberants Anabel lässt diesen nur an Vollmondnächten an sich heran, bei Wolf erlahmt die Libido bei Annagret unter der Fadesse von Häuslichkeit und humanitärem Einsatz. Erst das Internet mit seinem schrankenlosen Pornografieangebot bringt in Wolf den "Jäger" hervor, verleitet ihn dazu, eine "Enthüllungsplattform" zu gründen.

Franzens Auslotungen von Männlichkeitsmiseren fehlt der Witz, die Schonungslosigkeit eines Michel Houellebecq. Wenn der sonst sanfte Aberant bei seiner Anabel schließlich hart zupackt, wird dies mit einem hohl tönenden Satz kommentiert; "Wir waren am Ende unserer feministischen Ehe angelangt." Das Problem daran ist noch nicht einmal, dass Franzens feministische Frauenfiguren verstockt und herrisch wirken. Der Autor scheint in Beziehungsmodellen die Wurzel ganzer Denkmodelle aufspüren zu wollen. Das wirkt nicht nur überspannt, es verwundert auch deshalb, weil es immer noch auf die Möglichkeit der Repräsentation, auf die Durchdringung komplizierter Sachverhalte mit psychologischen Mitteln vertraut.

Unschuld ist ein Roman, der sich allenthalben mit Verrat und Geheimnissen beschäftigt, aber überraschend wenig der Fantasie überlässt. (Dominik Kamalzadeh, 4.9.2015)