Bärtige Abenteurer im Schnee: der Everest, ein Monster.


Foto: Universal Pictures

Die Kamera fährt den Kamm des Bergrückens entlang, bis der Gipfel des Mount Everest schließlich majestätisch in die Mitte des Bildes rückt. Diesen Shot gibt es in Everest, dem Eröffnungsfilm des 72. Filmfestivals von Venedig, gleich an zwei Stellen, und beide Male beschleicht einen dabei das Gefühl, einen Dinosaurier wie aus Jurassic World zu betrachten. Das Bild will einem Respekt einflößen und zugleich das Monster in ganzer Pracht zur Schau stellen. Doch nahe kommt man der Bestie, wie der Berg im Film immer wieder genannt wird, freilich nur mit digitaler Trickserei.

Dieser Widerspruch von Natur und Technik bestimmt im Grunde den gesamten Film von Baltasar Kormákur. Einerseits erzählt er von einer Gruppe Bergsteiger, die sich unter der Leitung des erfahrenen Rob (Jason Clarke) einer der letzten Herausforderungen der Menschheit stellen; andererseits geht es von Anfang an darum, den Berg (und sein schlechtes Wetter) als Ungeheuer zu inszenieren. Das Spektakelkino, dessen Erfordernisse Everest schon fast zu pedantisch erfüllt, will Affekt und Effekt kurzschließen: Der Kampf ums Überleben soll auch als physischer Sinneskitzel funktionieren.

Alfonso Cuaróns existenzielles Weltraumdrama Gravity, mit dem die Mostra vor zwei Jahren gestartet wurde, hat diese Idee jedoch weit eindrucksvoller umgesetzt. In Everest dauert der Anstieg in einem dramaturgischen Sinne einfach zu lang. Pflichtschuldig rückt Kormákur ein paar der Frauen hinter den bärtigen Abenteurern ins Bild, die zu Hause um ihre Lieben bangen – Keira Knightley absolviert ihre Rolle als Robs schwangere Frau praktisch aus dem Bett; halbherzig weist er auf das Geschäft mit der Bergbesteigung hin, das zu Staubildung in schwierigen Abschnitten beiträgt. Immerhin amüsiert Jake Gyllenhaal als entspannter Bergführer, dem die Höhenluft gut bekommt, und Josh Brolin versprüht als angezählter Texaner virilen Charme.

Dynamik setzt in Everest erst dann richtig ein, als die Truppe durch einen Wetterwechsel auseinandergerissen wird. Im dichten Eis- und Schneegestöber, das auch auf der akustischen Seite merklich um die Ohren pfeift, schränken sich die Perspektiven ein, doch Everest schöpft aus dieser Konzentration Kraft. Rob bleibt mit einem Mann nahe am Gipfel hängen, die Sauerstoffreserven werden knapp. Auch der verbliebene Rest der Truppe findet nicht rechtzeitig ins Lager zurück und muss in der Kälte ausharren.

Kormákur spielt verschiedene Rettungsszenarien durch und verzichtet dankenswerterweise auf überzeichneten Heroismus. Für das, was einen Menschen bewegt, wenn er an seine Grenzen stößt, wählt er jedoch nur die naheliegenden Bilder. Das letzte Wort hat, wie eine der Figuren einmal sagt, immer der Berg. Das vorletzte haben in Everest die Frauen, die ihre Bergfexe auch in auswegloser Lage nicht im Stich lassen. (Dominik Kamalzadeh, 2.9.2015)