Oliver Sacks, "On the Move – Mein Leben". Aus dem Englischen von Hainer Kober. € 25,60 / 448 Seiten. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg, 2015

Cover: Rowohlt

Das schwarz-weiße Coverfoto passt perfekt zum Titel des Buchs: Es zeigt einen jungen muskulösen Mann in Lederkluft, der stolz auf einer schweren BMW thront und nach vorn blickt. Darüber steht On the Move – Mein Leben. Ohne mehr zu wissen, würde man wohl die Autobiografie eines Beatniks oder jungen Wilden rund um 1968 erwarten. Doch der Autor heißt Oliver Sacks, und der scheint so gar nicht zu diesem Foto zu passen: Alle bekannteren Porträtaufnahmen des weltberühmten Hirnforschers, der am Sonntag in New York starb, zeigen einen netten älteren Herrn mit Brille und einem mehr oder weniger mächtigen grauen Vollbart.

Hat man die ersten Seiten von Sacks' offenherzigen Memoiren gelesen, die weniger Wochen vor seinem Tod auch auf Deutsch erschienen, wird schnell klar, dass die auf dem ersten Blick befremdliche Covergestaltung gut gewählt ist: Denn steht ein junger Mediziner aus England im Mittelpunkt, der nach dem Studium in Oxford in die USA geht und am Wochenende seinen Arztkittel mit der Lederkluft vertauscht, um die Weiten des amerikanischen Westens zu erkunden.

Motorräder, Drogen und Gewichte

Der Motorradfanatismus – mitunter fährt der junge Arzt mehr als 1000 Kilometer am Stück – war indes nur ein Teil des Doppellebens, das der angehende Neurologe in den 1960er-Jahren in Kalifornien führt: Sacks hebt schwere Gewichte und stellt sogar einen kalifornischen Landesrekord auf. Daneben probiert er alle möglichen Drogen aus, interessiert sich für die verschiedensten Dinge und füllt ein Notizheft um das andere, weil er zudem auch noch literarische Ambitionen hat.

Die leicht selbstzerstörerische Seite dieser exzessiven Lebensweise kommt nicht von ganz ungefähr: Sacks ist homosexuell, was im prüden England nach dem Zweiten Weltkrieg unter Strafe gestellt war. Schlimmer war aber die Reaktion seiner Mutter auf das zaghafte Coming-out ihres Sohns. Die Gynäkologin, die beim Mittagessen gerne über weibliche Genitalien sprach, meinte nur: "Ich wünschte, du wärst nie geboren worden" – ohne dann je wieder ein Wort darüber zu verlieren.

Sacks, der sonst ein sehr inniges Verhältnis zu seiner Familie inklusive seiner Mutter hatte, erzählt völlig beiläufig über sein eher bescheidenes Sexualleben: seine wenigen Affären als junger Erwachsener und eine besonders leidenschaftliche Begegnung rund um seinen 40. Geburtstag. Nonchalant fügt er hinzu, dass es dem Genuss damals nicht schadete, noch nicht zu wissen, dass er in den nächsten 35 Jahren keinen Sex haben würde.

Die "Gewohnheiten lebenslanger Einsamkeit" ändern sich dank einer späten Beziehung erst mit Mitte siebzig. "Es war eine neue Erfahrung für mich, ruhig in den Armen eines anderen zu liegen, zu reden, Musik zu hören oder gemeinsam zu schweigen", so Sacks, der bis dahin sein "ganzes Leben lang Distanz gewahrt" hat und immer Schwierigkeiten mit "Bonding, Belonging and Believing" hatte, also mit Bindungen, mit Zugehörigkeit und mit dem Glauben.

Umso erfüllter und leidenschaftlicher war sein Leben als Mediziner, Wissenschafter und Schriftsteller, über das Sacks dann eher in der zweiten Hälfte seiner Lebenserinnerungen mit dem ihm eigenen Enthusiasmus aber immer auch viel britischer Ironie berichtet. Denn auch beruflich gab es immer wieder Rückschläge: Sein allererstes Buch über Migräne kostete ihn seinen Job, weil sein Vorgesetzter ihm die Veröffentlichung verbat.

Peripatetischer Neurologe und Essayist

Danach arbeitete Sacks als "peripatetischer" Neurologe ohne feste Anstellung in New York, während sein zweites Buch, Awakenings, zum internationalen und später verfilmten Bestseller wird und Sacks' Ruf als Meister der medizinischen und wissenschaftlichen Essayistik in der Tradition des 19. Jahrhunderts begründet. Der chronische Vielschreiber – Sacks hinterlässt rund 1000 Notizhefte und Tagebücher – rekapituliert schließlich noch einmal seine wichtigsten Arbeiten und gibt Einblicke in ihre Entstehungsprozesse.

"Ich bin ein Geschichtenerzähler", heißt es auf der letzten Seite des Buchs lakonisch, das ein letztes Mal beweist, dass Oliver Sacks einer der besten dieser Zunft war. (Klaus Taschwer, 2.9.2015)