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Der 1. September ist in der Ukraine traditionell der erste Schultag. An diesem Tag schwiegen auch die Waffen, aber nicht überall.

Foto: REUTERS/Gleb Garanich

Moskau/Kiew – Neuer Versuch zum neuen Schuljahr. Am 1. September, traditionell erster Schultag in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, ist offiziell eine weitere Feuerpause in Kraft getreten. "Stand elf Uhr am 1. September halten beide Seiten die Feuerpause völlig ein", teilte Darja Olifer, Pressechefin des Kiewer Vertreters in der Ukraine-Kontaktgruppe, Ex-Präsident Leonid Kutschma, mit.

In der Nacht hatte es hingegen zumindest noch Gefechte mit Handfeuerwaffen gegeben. Die Militärführung berichtete von Angriffen auf Marjinka, Awdejewka, Opytnoje und Krymskoje; die Rebellen vermeldeten den Beschuss der Ortschaften Schelobok, Sokolniki und Popasnaja. Immerhin: Die Artillerie schweigt – und das bereits seit einigen Tagen. Wie lange diese relative Ruhe hält, ist ungewiss. Abgezogen wurden die schweren Waffen von der Front jedenfalls noch nicht. Auch die Drohnen fliegen noch über dem Bürgerkriegsgebiet.

Und so könnte sich dieser fünfte Anlauf einer Waffenruhe seit Beginn der Kämpfe lediglich als weitere Atempause vor einer neuen Verschärfung des Konflikts erweisen. Die Töne auf beiden Seiten der Front sind weiterhin schrill: In Kiew gingen Nationalisten gegen die geplante Dezentralisierung des Landes auf die Straße. Die Proteste wuchsen sich zu schweren Krawallen aus. Nach dem Wurf einer Handgranate auf die Polizei sind inzwischen drei Beamte ihren Verletzungen erlegen. Pikanterweise gehört der mutmaßliche Täter einem Freiwilligenbataillon an, das im Donbass kämpft.

Populistenführer Oleh Ljaschko nannte die geplante Autonomievergabe an die Regionen "Verrat", und Präsident Petro Poroschenko knickte vor den Hardlinern ein und versicherte, die Verfassungsänderung werde dem Donbass-Gebiet keinen Sonderstatus einräumen – obwohl dies eigentlich im Minsker Abkommen festgeschrieben ist.

Referendum über Anschluss

Auf der Gegenseite bereiten die Rebellen unterdessen ungeachtet des Protestes aus Kiew nicht nur ihre Wahlen nach eigenem Gesetz am 18. Oktober und 1. November vor, sondern forcieren Medienberichten zufolge auch ein Referendum über den Anschluss der Gebiete Donezk und Luhansk an Russland. In der Industriestadt Stachanow deuten große Plakate über die Nähe der "Luhansker Volksrepublik" zu Russland auf die Vorbereitungen hin.

"Die Geschichte mit dem Referendum ist kein Fake", zitiert die russische Internetzeitung gazeta.ru einen ungenannten Kremlbeamten, der für die Moskauer Ukraine-Politik zuständig ist. Die Entscheidung darüber wird demnach auf höchster Ebene, ausgehend von den Ergebnissen im Herbst, getroffen. Während Kremlsprecher Dmitri Peskow entsprechende Spekulationen nicht kommentieren wollte, erklärte der "Premier der Luhansker Volksrepublik" Igor Plotnizki offen, wenn nötig, werde das Referendum durchgeführt. "Wie könnten die Omas, denen (der ukrainische Premier Arsenij) Jazenjuk die Rente gestohlen hat, oder die Kinder in Perwomaisk, die im Bombenhagel aufwachen, dagegen sein?", ließ er am Ausgang keinen Zweifel.

Angesichts der russischen Annexion der Krim mittels eines solchen Szenarios birgt allein die Ankündigung eines Referendums erheblichen Sprengstoff. Moskaus tatsächliches Interesse an einer Übernahme der Region ist freilich erheblich geringer als bei der Krim.

Erhebliche Belastung

Die zwei wichtigsten Gründe: Russland wäre damit offiziell Kriegspartei im Donbass, und die Industrieregion erfordert eine wesentlich größere finanzielle Aufbauhilfe als die Krim und wäre Russland in der derzeitigen Wirtschaftskrise eine erhebliche Last.

Rechtlich verpflichtend wäre ein Referendum für den Kreml nicht. Wladimir Putin hat in der Vergangenheit bei der Verteidigung des Krim-Anschlusses betont, die Situation im Donbass sei "eine andere". Moskau hat auch nicht die Unabhängigkeit der Region nach dem umstrittenen Referendum im Mai 2014 über die Selbstbestimmung anerkannt.

Das Referendum könnte Moskau allerdings dazu nutzen, den Druck auf Kiew in den Verhandlungen über die Zukunft der Region und auch den Status der Ukraine selbst zu erhöhen. Ein weiteres Druckmittel könnte die Ausgabe russischer Pässe an die Bürger in dem Gebiet sein – Ähnliches geschah in Abchasien und Südossetien. Der Duma liegt bereits eine entsprechende Initiative vor. (André Ballin, 2.9.2015)