Ankunft syrischer Flüchtlinge am Wiener Westbahnhof

Foto: STANDARD/Christian Fischer

Der Schock durch die 71 toten Flüchtlinge im eigenen Land hat etwas bewirkt. Etwa dass mehr als zwanzigtausend Menschen auf die Straße gehen, um Flüchtlingen zu zeigen: Ihr seid willkommen. Das ist ein starkes Signal. Genauso wie jene Österreicher, die spontan helfen, die in Wien am Bahnhof gestrandeten Flüchtlinge zu versorgen. Auch die ÖBB haben richtig reagiert. Die Szenen erinnerten an den Herbst 1989, als Züge voller Menschen aus Osteuropa durch Österreich nach (West-)Deutschland fuhren. Im Hintergrund dürfte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel die Fäden gezogen haben, um die Ausreise dieser Menschen zu ermöglichen. Ihre Erfahrungen in der DDR und rund um den Mauerfall haben dabei sicher eine Rolle gespielt.

Dieser Tag und diese Reaktionen sind ein Grund zur Freude und ein Grund, wieder positiver in die Zukunft zu blicken. Österreich ist, um einen Begriff des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck abzuwandeln, ein bisschen heller geworden.

Es sind Zeichen gesetzt worden: dass es nicht egal ist, wie Menschen behandelt werden. Auch Kardinal Christoph Schönborn hat im Stephansdom die richtigen, aufrüttelnden Worte gefunden. Diese Worte sind das eine. Das andere: Schönborn und Diakonie-Präsident Michael Chalupka schreiben noch immer Kolumnen für die Kronen Zeitung, die ein Foto der toten Menschen im Kühl-Lkw zeigte.

Ob nun tatsächlich im Umgang mit Flüchtlingen ein Wendepunkt erreicht ist oder ob es nur ein kurzes Aufblitzen des "anderen" Österreich war, das sich einst zu einem Lichtermeer zusammengefunden hat, werden die nächsten Wochen zeigen. Es ist auch einfacher, Flüchtlingen zu helfen, die nur auf der Durchreise sind. Wäre die Versorgung auch so bereitwillig geleistet worden, wenn die Flüchtlinge gekommen wären, um zu bleiben?

Deutschland hat die richtigen Konsequenzen gezogen und das Dublin-Abkommen de facto außer Kraft gesetzt. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner wiederholt in diesen Tagen, dass in Österreich die Dublin-Regelung bleibt. Wer aber eine Verteilung von Flüchtlingen nach Quoten auf andere EU-Länder fordert, muss konsequenterweise auch die Abschaffung jenes Systems forcieren, das Flüchtlinge zwingt, den Aufnahmeantrag in jenem EU-Land zu stellen, das sie als Erstes betreten. Wer aber in keinem dieser Staaten bleiben will, versucht eine Registrierung zu verhindern und begibt sich häufig in die Hände von Schleppern. Abschiebungen nach Griechenland sind ohnehin seit einem EuGH-Urteil 2013 nicht mehr erlaubt.

Der Flüchtlingsstrom wird nicht rasch versiegen, solange in Syrien weiterhin Krieg und in Ländern wie dem Irak und Afghanistan Terror herrscht. Es gilt nicht nur die Erstversorgung von Asylsuchenden in den Griff zu bekommen, sondern auch längerfristige Strategien zu entwickeln: Diese Menschen brauchen Wohnungen und Arbeit, die Kinder eine Schulbildung.

Das ist nicht einfach zu bewältigen. Die Politik muss sich bewegen, aber auch jeder Einzelne kann etwas beitragen. Es ist Zeit, sich in diesem Herbst aus der Schockstarre zu bewegen. Angst und Abwehr haben bisher dominiert, jetzt gilt es zu handeln. Wir sollten eine Willkommenskultur entwickeln. Österreich hat bei der Bewältigung der Flüchtlingskrisen 1956, 1968 und in den 1990er-Jahren gezeigt, dass und wie diese Herausforderungen zu schaffen sind. (Alexandra Föderl-Schmid, 1.9.2015)