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"Wir werden zeigen, dass jedes Menschenleben etwas wert ist", sagte Kanzler Werner Faymann (SPÖ).

Foto: apa/Hochmuth

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Es sei genug des Sterbens und genug der Schuldzuweisung, befand Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP).

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Wien – Auf Viktor Orbán ist Werner Faymann derzeit nicht gut zu sprechen. "Gesetze sind einzuhalten", richtete der Kanzler seinem ungarischen Amtskollegen am Dienstag bei der früh am Morgen angesetzten Regierungssitzung im Parlament aus. Am Montag waren 3.650 aus Ungarn kommende Flüchtlinge am Wiener Westbahnhof eingetroffen, auch am Dienstag hielt der Zustrom an. Man werde "die Sache genau untersuchen" und eine "klare Sprache" gegen Ungarn finden, kündigte Faymann an. Nur weil die Dublin-Verordnung (sie regelt, dass jenes EU-Land zuständig ist, in dem Flüchtlinge zuerst EU-Boden betreten) schlecht funktioniere, könne Budapest das Abkommen nicht komplett aussetzen.

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Faymann will auch bilaterale Gespräche mit Tschechien und der Slowakei führen, um seiner Forderung nach europäischen Quoten Nachdruck zu verleihen. Hierzulande aber werden die rot-schwarzen Regierungsspitzen demnächst mit dem neuen Flüchtlingskoordinator Christian Konrad in Klausur gehen. Dabei sollen angesichts der vielen Schutzsuchenden die Themen Wohnen, Arbeit und Integration behandelt werden. Für Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) wird es auch darum gehen, Flüchtlinge "als Chance" und "nicht als Bedrohung" zu sehen. Viele seien gut qualifiziert, betonte der Wirtschaftsminister.

Gleich nach dem Ministerrat nahmen die Koalitionäre auf der Regierungsbank im Nationalrat Platz, um auch bei der Sondersitzung zum anstehenden Durchgriffsrecht des Bundes zur Unterbringung von Flüchtlingen (mitunter gegen den Willen der Länder und Gemeinden) rigorose Töne anzuschlagen – allerdings in Richtung FPÖ. Davor rief Nationalratspräsidentin Doris Bures (SPÖ) das Hohe Haus angesichts der Tragödie mit 71 toten Asylwerbern im Burgenland zu "Menschlichkeit und Solidarität" sowie zu einer Gedenkminute auf – doch die andächtige Stimmung sollte nicht allzu lange währen.

Wortgefechte nach Gedenkminute

Angesichts des Gesetzes, das SPÖ und ÖVP am 23. September mit den Grünen in den Verfassungsrang hieven wollen und dem auch die Neos zustimmen werden, hielt Faymann in seiner Rede vor den Abgeordneten fest: "Österreich wird eine Entscheidung zu treffen haben, ob wir Kriegsflüchtlinge, die um ihr Leben laufen, mit Stacheldraht oder mit menschlichen, ordentlichen Quartieren empfangen."

Auch Mitterlehner sprach sich vehement für Solidarität mit den Flüchtlingen aus. Dass die vom Bund geplante Quote beim Schaffen von Quartieren zu hoch sei, stellte er in Richtung von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache in Abdrede. "Wovor fürchten Sie sich? 1,5 Prozent sind zumutbar!" Etwas anderes zu behaupten sei "eine Beleidigung unserer humanitären Tradition". Dazu geißelte Mitterlehner Ausdrücke wie "Wirtschaftsflüchtlinge" und "Asylbetrug", die von den Blauen gern verwendet werden. "Wir reden hier nicht über Material, wir reden über Menschen!"

Koordinator statt Chefqualitäten

Davon unbeeindruckt polterte Strache angesichts "der Massenzuwanderung": "Ich sehe keinen Chef und keine Lösung in dieser Sache. Ich sehe einen Koordinator – wofür brauchen wir Sie noch Herr Kanzler, Herr Vizekanzler?" Dass die Koalition die Unterbringungsproblematik durch eine Entmachtung der Länder und Gemeinden lösen wolle, sei Anlass zur Sorge, deswegen werde er, Strache, einen Antrag auf eine Volksabstimmung darüber einbringen. Und überhaupt seien nicht alle, die kommen, Menschen im Sinne der Genfer Konvention, deswegen brauche es lückenlose Kontrollen an den Grenzen mithilfe des Heeres.

Menschen statt Grenzen schützen

Die grüne Chefin Eva Glawischnig hielt dazu fest: "Wir wollen Menschenleben schützen und nicht Grenzen!" Die FPÖ wolle in den Gemeinden ja sogar die Unterbringung von unbegleiteten Kindern verhindern, doch das Durchgriffsrecht werde auch zu einer "Normalisierung" der Situation beitragen. Dazu kündigte Glawischnig an, den Vorschlag der Regierung zu unterstützen, EU-Förderungen mit einer gerechten Flüchtlingsverteilung zu verknüpfen.

Trotz Zustimmung zum Durchgriffsrecht forderte Neos-Boss Matthias Strolz von Faymann und Mitterlehner auffallend aggressiv einen Nationalen Aktionsplan zum Flüchtlingsdrama ein. Das Sterben von Asylwerbern "heute im Straßengraben" sei nur der Anfang gewesen, morgen lägen die Menschen womöglich schon "in unseren Vorgärten". (Günther Oswald, Nina Weißensteiner, 1. 9. 2015)