Die drei einprägsamsten Erlebnisse im Leben von Rama Dahai waren die Geburt ihrer beiden Kinder und der 25. April 2015. Die 30-jährige Nepalesin verließ am Morgen ihr kleines zweistöckiges Haus in dem überschaubaren Dorf Pokhrelgaon in der grünen Hügellandschaft rund um die Hauptstadt Kathmandu. Sie ging zur Arbeit ein paar Häuser weiter, hatte an diesem Tag keine Kinderbetreuung und setzte ihren achtjährigen Sohn und ihre dreijährige Tochter vor den Fernseher in den ersten Stock. Dann bebte die Erde.
Die an Erdstöße gewohnte Dahai wusste sofort, dass diese Erschütterungen Unheil bedeuten würden. So heftig hatte sich der Boden noch nie bewegt. Dann begann die Mutter zu laufen. Ihre Beine aber versagten vor Panik, dass ihren Kindern etwas zugestoßen sein könnte.
Im Sofa eingeklemmt
Um sie herum schrien die Dorfbewohner zwischen den einstürzenden Häusern. Auf allen vieren schaffte es Dahai schließlich zu ihrem Haus, von dem nur noch der erste Stock unter den Trümmern zu sehen war. Ihr Achtjähriger stand davor, rief gemeinsam mit Nachbarn den Namen seiner Schwester.
Die dreijährige Pratyvsha meldete sich schließlich, sie war im Sofa eingeklemmt, ihre Beine unter einem Holzbalken begraben. Ihre tapferen Worte: "Holt mich raus, ich verspreche auch, dass ich nicht weinen werde." Mit ein paar Schrammen konnte sie befreit werden. Sie hatte Glück. Heute tanzt das Mädchen mit den kurzen Haaren und dem frechen Grinsen bereits wieder um ihre Mutter – und erzählt aufgeregt selbst ihre Geschichte. Vor dem roten Samtsofa, unter dem sie begraben war und das jetzt vor dem Haus steht – quasi als Erinnerung.
"Vuichalo"
Noch vier Monate nach dem ersten verheerenden Beben in Nepal, bei dem fast 9.000 Menschen ihr Leben verloren haben, ist die Katastrophe das wichtigste Gesprächsthema – das Wort "vuichalo" oder "Beben" hört man überall in den Straßen des Landes.
Die Aufräumarbeiten sind im Gange; in jeder Stadt, in jedem Dorf transportieren Freiwillige den Schutt aus den zerstörten Ruinen in den engen Gassen. Hämmern, Bohren und das Schaben der Schaufeln über den Pflasterstraßen tönen durch die Ortschaften. Fein säuberlich stapeln Helfer die unbeschädigten Ziegel am Straßenrand übereinander. Verschwendung kann sich niemand in dem Land leisten, in dem ein Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze von umgerechnet rund 1,1 Euro pro Tag lebt. Ein Ziegel kostet im Moment 20 Nepalesische Rupien oder etwa 17 Eurocent. Ein Sack Zement ist mit 1.500 Rupien oder rund 13 Euro für viele Nepalesen unerschwinglich.
Steigende Lebensmittelpreise
Viele Familien mussten auf der Flucht ihre Landwirtschaften zurücklassen. Das ist neben dem anhaltenden Monsun der Grund, warum zudem die Lebensmittelpreise im Land gestiegen sind. Der Preis für ein Kilogramm Karfiol hat sich in den vergangenen vier Monaten von 30 auf 60 Rupien verdoppelt, Tomaten kosten mit 60 statt 40 Rupien pro Kilo um die Hälfte mehr. Auch der Anbau des Grundnahrungsmittels Reis, dessen Bedarf von Nepal selbst vor dem Beben bereits nur zu 60 Prozent bestritten werden konnte, leidet unter der Flucht der Menschen.
Hilfsorganisationen wie SOS-Kinderdorf bieten in ihren Nothilfeprojekten deshalb auch Mahlzeiten für die Opfer der Katastrophe. In sogenannten "Child Care Spaces" (CCS) bekommen die Kinder in Flüchtlingslagern und betroffenen Gebieten warme Mahlzeiten und einen Platz, an dem sie trotz des Elends wieder Kind sein können.
Realität in bunten Farben
In dem Flüchtlingslager von Bode, nahe der Stadt Bhaktapur, ist es still. Die Regentropfen trommeln gegen die bereitgestellten Zelte, Schuhe schmatzen im aufgeweichten Lehmboden der Wege dazwischen. In kleinen Gruppen sitzen die Überlebenden des Bebens vor den Zelten. Frauen schrubben mechanisch ihre Kochtöpfe, die Männer murmeln in kleinen Gruppen Gespräche. Alltag in einer Ausnahmesituation. Nur aus einem großen Zelt am Rande des Lagers dringt Lachen nach draußen. Ein nepalesisches Kinderlied bahnt sich seinen Weg durch die Zeltstadt.
Die Häuser der Kinder in dem Zelt existieren nur noch auf Papier. Mit bunten Farben kleben die in Realität nur noch aus Schutt bestehenden Behausungen an der Wand des großen Zeltes. Traumatherapie. Das Erlebte verarbeiten. So nennt Shree Shankar Pradhananga, Leiter von SOS-Kinderdorf in Nepal, die Zeichnungen der 78 Kinder des Lagers. Der 60-Jährige ist stolz darauf, was sein Team aus Psychologen, Pädagogen und Freiwilligen in den Stunden nach dem Beben geschafft hat. "Die Kinder können trotz der Katastrophe wieder lachen", sagt Pradhananga während er dabei hilft, den Milchreis an die Kleinen im Sitzkreis auszuteilen.
Zugang durch die Kinder
Die Kinder erhalten in den neun verbliebenen Not-Kindertagesstätten in Nepal einen festen Tagesablauf. Kurz nach dem Beben waren es 25 solcher Einrichtungen. Man arbeite jedoch "nachfrageorientiert", so Pradhananga. Soll heißen, dass man die Unterstützung nur auf jene Lager konzentriert, in denen die Kinderbetreuung durch die Hilfsorganisation wirklich notwendig ist.
Durch die Einrichtungen wird es auch den Eltern möglich gemacht, sich auf ihren Alltag zu konzentrieren und das Leben nach der Katastrophe wieder zu ordnen. "Durch die Child Care Spaces haben wir zudem näheren Kontakt mit den Familien", erzählt Ramesh Tamrakar vom SOS-Kinderdorf Sanothimi, nahe Kathmandu. Durch Gespräche mit den Eltern lasse sich herausfinden, was die Betroffenen am Notwendigsten brauchen. Deshalb habe man auch Hilfsprojekte entwickelt, in denen Häuser wiederaufgebaut und Arbeitsplätze für die bedürftigsten Familien geschaffen werden.
Hinweis: Die Übersetzung erfolgte mithilfe von Einheimischen. Der Wortlaut kann von der Übersetzung abweichen.
Monsun und Schlammlawinen
Viele Betroffene haben Angst vor der Zukunft. "Unser Vieh ist nach dem Beben in die Wildnis davongelaufen", erzählt ein Mann zwischen den Zelten mit der Aufschrift des chinesischen Hilfswerks im Lager Bode. Die Landwirtschaft sei durch die monsunbedingten Schlammlawinen zerstört und somit seiner Familie die Lebensgrundlage entzogen worden. Er will trotzdem zurück in sein Dorf fahren, wenn der Monsun dann im Oktober vorbei ist, um zu sehen, was noch zu retten ist.
Ein paar Wochen nach dem Beben hat die nepalesische Regierung Richtlinien für den Wiederaufbau erlassen. Die Bauarbeiten in den Katastrophengebieten sollen unter dem Zeichen der Erdbebensicherheit stehen. Eine lobenswerte Angelegenheit, wie Pradhananga findet. Trotzdem befürchtet er, dass die Leute ihre Häuser mit allen Gegenständen und Materialien, die sich finden, wiedererrichten werden. Erdbebensicherheit können sich eben viele Menschen in Nepal nicht leisten.
Dass bei öffentlichen Gebäuden die Richtlinien eingehalten werden, sei richtig und wichtig. Immerhin wurden durch die Naturkatastrophe rund 7.000 Schulen im ganzen Land komplett oder teilweise zerstört. Dabei habe man laut Pradhananga noch Glück gehabt, dass das Beben am Wochenende passiert sei: "Man will sich gar nicht vorstellen, wie viele Kinder verletzt oder getötet worden wären."
Fehlende Sanitärräume in Schulen
Auf Geheiß der nepalesischen Regierung mussten bereits kurz nach dem Beben die Schulen wieder öffnen – selbst wenn sie nur temporäre Klassenräume zur Verfügung hatten. Was für Pradhananga und viele Hilfsarbeiter zuerst nach einer verrückten Idee klang, stellte sich bald als weise Entscheidung heraus: "Den Kindern wieder einen Alltag zu geben, half ihnen, über ihre Traumen hinwegzukommen", so der Kinderdörfer-Leiter. Er erzählt aber auch von dringend benötigten Sanitärräumen in einigen Schulen und dem Problem, dass viele Kinder nach dem Beben flüchten oder beim Wiederaufbau helfen müssen – und so nicht mehr zum Unterricht erscheinen.
"Waren es in einer Schule von Sindhupalchok vor dem Beben noch 700 Schüler, so habe ich bei meinem Besuch nach der Wiedereröffnung nicht einmal 400 Kinder gesehen", sagt Pradhananga. Wie man die Kinder am besten zum Unterricht bewegen könnte, weiß er allerdings nicht.
Gefahr durch Menschenhandel
Die jüngsten Nepalesen sind es, die durch die Katastrophe noch verletzlicher wurden. Die offene Grenze nach Indien ermöglichte es in den Tagen nach dem Beben Menschenhändlern, Kinder und Frauen ins Nachbarland zu schmuggeln. Die Regierung Nepals reagierte. Seit einigen Wochen dürfen Minderjährige nicht mehr aus ihrem Heimatbezirk gebracht und müssen in Einrichtungen vor Ort betreut werden.
Vor allem im Grenzbereich wurden die Polizisten speziell auf dieses Thema hin sensibilisiert. So konnten etwa im Mai mehr als 20 Kinder aus den Fängen von Schmugglern in Indien befreit werden. Das kriminelle Netzwerk hatte es vor allem auf Familien abgesehen, die durch das Beben ihre Lebensgrundlage verloren hatten.
Tausende noch immer in Lagern
Noch immer leben nach groben Schätzungen zwischen 4.000 und 9.000 Menschen in Lagern. Mit nachdenklicher Miene erzählt Laxmi Prashad am Straßenrand des Hauptplatzes von Bhaktapur von dem Tag, seit dem er nicht mehr in seinen eigenen vier Wänden schlafen kann. Der Mann, etwa Ende 50, mit den tiefen Falten im Gesicht stand mit den meisten seiner Familienmitgliedern am Feld, als die Erde des Kathmandu Tals bebte. Nur seine 84-jährige Mutter war zu Hause geblieben. Ihre Leiche konnte erst vier Tage nach der Katastrophe aus den Trümmern gezogen werden.
Prashad selbst schläft seitdem in einer vorübergehenden Behausung außerhalb der Stadt. Die Mauern, die teilweise nur mit oberschenkeldicken Holzpfosten gestützt werden, machen ihm Angst. Er hat Panik, dass das Beben zurückkommt. Trotzdem möchte er seiner Familie wieder ein Haus bauen, seine Furcht überwinden und in die Zukunft blicken können. Nach dem Monsun. Zuerst müssen die Regenfälle aufhören.
Hinweis: Die Übersetzung erfolgte mithilfe von Einheimischen. Der Wortlaut kann von der Übersetzung abweichen.
Ab Oktober
Dann, im Oktober, werden auch die Nothilfeprojekte von SOS-Kinderdorf eingestellt. "Natürlich nur, wenn sie auch wirklich nicht mehr benötigt werden", verspricht Pradhananga dem Schulleiter von Thali, wo 70 Menschen im April ihr Leben verloren haben und die Innenstadt noch immer in Trümmern liegt.
Die Helfer rechnen damit, dass die Binnenflüchtlinge in dieser Zeit zurück aufs Land gehen werden, um ihre zerstörten Häuser wiederaufzubauen. "Was anderes bleibt uns Nepalesen nicht übrig. Das Leben muss weitergehen", sagt Pradhananga und zitiert damit einen weiteren Satz, der im Moment im ganzen Land in aller Munde ist. (Bianca Blei aus Kathmandu, 15.9.2015)