Zahlreiche interessante Augenblicke gab es – Organist Pierre Charial verantwortete viele davon.

Foto: Peter Moser, Jazzfestival Saalfelden

Saalfelden – Unangenehm, wenn ein Festivalprogramm, im Idealfall selbst eine formvollendete Komposition, durch Absagen fragmentiert wird. Das Potenzial eines mehrtägigen Arrangements von Ereignissen zeigt sich andererseits genau in Augenblicken, da es gilt, entstandene Leerstellen niveauvoll wegzuzaubern. Sicher war Saalfelden also ein Pechvogel, da gerade Thomas de Pourquerys Sun-Ra-Projekt ausfiel. Wäre interessant gewesen zu hören, wie das Werk des verstorbenen Big-Band-Mystikers mit dem Hang zu kosmischen Fantasien als Objekt der Verarbeitung gewirkt hätte.

Dann allerdings sprang das Trio des Saxofonisten und Bassklarinettisten Michael Riessler ein und formte das Jazzfestival zum Glückspilz unter den Pechvögeln. Ungewöhnliches Fundament dieses (der europäischen Kammermusik zugeneigten) Ansatzes war die mit harmonisch-melodischer Exzentrik intervenierende Drehorgel von Pierre Charial. Das Element der Improvisation profitierte extrem von dieser schrulligen Klangwelt.

Charial tönte, als wäre er aus einem Horrorfilm herübergebeamt worden, in dem er gerade irrwitzig flink gruselige Sonaten zelebriert, während ihn der Dritte im Bunde – Cellist Vincent Courtois – diskret ergänzt. Der Eindruck einer schummrigen Party auf einem verwunschenen Schloss, in dem Klarinettist Riessler als Gastgeber fungiert, blieb allerdings nicht das einzig Reizvolle.

Sinn des Free Jazz

Der Triovorstand beherrscht ja nicht nur die sogenannte Kreisatmung, die es erlaubt, ohne Luftholunterbrechung Endloslinien zu entwickeln. Er verfügt auch über Gestaltungsenergie, vermag lukrativ die Illusion eines zweistimmigen Kontrapunkts zu erwecken und zeigt so, wie freejazzige Improvisation mit Sinn erfüllt werden kann: indem bei aller Emphase der quasi kompositorische Überblick bewahrt wird. Das Einspringertrio entpuppte sich als ungeplanter Höhepunkt eines Festivals, das sich wieder einmal offenherzig der Stilweite hingab.

Da war die schwedisch-norwegische Formation Boat um den Drummer Teun Verbruggen: Freie Ausbrüche aus definierten Songformen demonstrierten den anarchischen Hang zur Dekonstruktion. Andernorts wurde es auf exzentrische Art und Weise traditionell: Als wäre der poetische Saxofonist Jan Garbarek bei Chick Coreas bombastischer Jazzrock-Band Return to Forever eingestiegen, während im Proberaum ein Erdbeben alle Musik durcheinanderrüttelt, klang das mitunter. Also witzig, rockig und gern auch widerborstig.

Auch etwas Hard Bop

Die bisweilen wilde Abstraktheit der Formation Atomic musste sich hinter solch Künsten nicht verstecken. Prägnante Staccatothemen gemahnten an die Hard-Bop-Ära, nervöse Walkingbass-Linien erzeugten Dringlichkeit. Und über all der Beschwörung von Tradition regierte die virtuos umgesetzte Lust am Fantasieren, die witzige Bläserarrangements anzustacheln geruhten.

Ähnliches hätte die Hoffnung auch von US-Saxofonist Steve Coleman erwartet. Sein Kammerensemble Council of Balance wirkte von der üppigen Besetzung her gut gerüstet, dichte Solomomente mit schillernder orchestraler Assistenz zu versorgen. Der Meisterimprovisator jedoch exekutierte mit dem Kollektiv vielfach endlos lange Phrasen, erzeugte sterile Strukturen. Es wirkte, als wären Morsezeichen vertont worden, als wäre das Kammerensemble eine Musiknähmaschine.

Um wie viel vielschichtiger dagegen die Eröffnung des Festivals: Multitalent Maja Osojnik pflanzt bei dem Auftragswerk All.The.Terms.We.Are poetische Songblüten in düstere Geräuschlandschaften. Dabei geht sie als Sängerin energisch klagend, rezitierend, hauchend und Fantasiesprache einsetzend eindringlich in Extrembereiche des Ausdrucks. Ergebnis war eine markante Fusion von Elektronik, avanciertem Pop, Kammermusik und existenziellem Aufschrei. (Ljubisa Tosic, 30.8.2015)