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Konzentrierte Blicke auf irritierende Lebenswelten: Der Grazer Schriftsteller Clemens Setz steht mit seinem Roman "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" auf der Longlist des deutschen Buchpreises.


Foto: APA / Herbert Neubauer

Wien – Immer wieder hat es Clemens Setz geschafft, die vermeintlich eindeutigen zwischenmenschlichen Verhältnisse in ihr Gegenteil zu verkehren. Schutzbefohlene etwa: Nichts selbstverständlicher, als dass man nett zu sein hat zu beispielsweise Kindern (oder auch Alten, Kranken). Schon in Setz' frühen, unveröffentlichten Erzählungen (denen er kürzlich – damit quasi "Selbsteinrexung zu Lebzeiten" betreibend – im Band "Glücklich wie Blei im Getreide" Zusammenfassungen angedeihen ließ) wurden Kinder von ihren Eltern absichtlich im Auto vergessen oder über Nacht an den Gartenzaun gebunden.

In "Indigo" (2012) wurde dieses Verhältnis einen Schritt komplizierter: Da ließ Setz Kinder mit einem Syndrom zur Welt kommen, das dazu führt, dass Menschen in der Nähe eines solchen Kindes Symptome von Migräne bis zu Organschäden zeigen; eine Versuchsanordnung, die mit viel Geschick den gesellschaftlichen Konsens (das selbstverständliche Mitgefühl) gegen sich selbst ausspielte: Wie mit denen umgehen, die Schutz brauchen – und gleichzeitig Schaden anrichten?

Auf dem Präsentierteller

Eine solche Versuchsanordnung ist auch Setz' aktueller Roman "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre". Der "Schutzbefohlene" ist hier Alexander Dorm. Er lebt in einem Heim für betreutes Wohnen, ist geistig behindert und an den Rollstuhl gefesselt; er ist auch schuld am Tod einer Frau, der Ehefrau von Christoph Hollberg, den Dorm vor Jahren obsessiv verfolgt hat. Irgendwann ertrug die Frau die verstörenden Briefe und Geschenke des Stalkers an ihren Mann nicht mehr und beging Selbstmord – so die offizielle Version.

Nicht nur sind in der Figur des Dorm Schutzbedürfnis und Täterschaft vereint (er ist auch manischer Frauenhasser). Die Sache wird noch komplizierter: Seit vier Jahren schon lebt er im Heim und damit wie auf dem Präsentierteller für sein ehemaliges Opfer Hollberg; dieser bringt Geschenke, macht Ausflüge mit, schreibt sogar Gedichte für Dorm. Braucht also nur genug Zeit zu vergehen, damit man als Stalker automatisch gewinnt? So scheint es zu Beginn, doch handelt es sich tatsächlich um einen Racheakt vonseiten Hollbergs: Bei seinen Besuchen verübt er am hilflos von ihm besessenen Dorm (eine schaurige Konstruktion) Grausamkeiten.

Mit dieser Situation ist nun die Heldin, Natalie Reinegger, konfrontiert. Sie ist einundzwanzig, frisch diplomierte Behindertenpädagogin und Dorms Bezugsbetreuerin. Von ihren Kolleginnen bekommt sie nur ausweichende, irreführende Antworten, die allesamt mit "du weißt ja, wie das ist" zu enden scheinen; diese Form zäher Desinformation hat Setz schon in "Indigo" perfektioniert.

Implodierende Handlung

Wenn das anfangs nach einem Aufdeckungsplot aussieht, geht dann jedoch gerade in puncto Aufdeckung nichts weiter; Natalies Recherche scheint auf der Stelle zu treten. Das ist einerseits völlig folgerichtig: Manche Verhältnisse lassen sich nachträglich nicht mehr in Ordnung bringen, Zahnpasta bekommt man, wie es an einer Stelle heißt, nicht mehr in die Tube zurück; und es hat fast etwas Abenteuerliches, wie die Handlung am Ende anstelle einer Auflösung schlicht implodiert. Nach wohlgemerkt über tausend Seiten, tausend Seiten aber, auf denen anderweitig allerhand Bemerkenswertes vor sich geht.

Beispielsweise mit der Heldin: An ihr fallen vorerst die irritierenden Eigenschaften auf. Ihr seelisches Gleichgewicht hängt von imaginären und realen Haustieren ab, von Live-Sendungen und einer gelegentlichen (gestohlenen) Lexotanil-Tablette, gerne mit Alkohol; nächtens verteilt sie Oralsex an Fremde, deren Ergüsse sie mit nach Hause nimmt. Sie glaubt an Chemtrail-Verschwörungen und Mind-Control-Substanzen im Leitungswasser. Dazu kommt eine auch ansonsten recht sonderliche Gefühls- und Wahrnehmungswelt.

Letztere kennt man schon von Figuren aus früheren Texten des Autors; die "Frequenzen" etwa fanden der mitunter leerlaufenden Vergleiche ihrer Protagonisten wegen gemischte Aufnahme. In den letzten Jahren und auch in seinem aktuellen Roman schafft es Setz jedoch, die Abwege dieser exzentrischen Wahrnehmung zu einem einnehmenden, glaubwürdigen und nicht zuletzt faszinierenden Horizont zu verschmelzen. Das ist die große Leistung dieses Romans: wie im Blick auf eine vorerst irritierende Lebenswelt unvermittelt ein Gefühl für Alltag, ja so etwas wie Heimeligkeit entsteht. Wenn stimmt, was andernorts schon festgestellt wurde, dass Setz sich nicht für Psychologie interessiert, dann widmet er sich doch den Wahrnehmungen und Assoziationen seiner Figur mit solcher Zielsicherheit, dass sich eine groteske Art von Selbstverständlichkeit wie von selbst einstellt. Während Setz sich bisher nie über lange Strecken auf eine einzelne Perspektive verlassen hat, trägt diese problemlos über die tausend Seiten.

Mit seiner Heldin Natalie hebelt Setz zudem einen der ansonsten meist unhinterfragten, da nützlichen Grundirrtümer des Lebens aus: jenen nämlich, dass wir von der Welt alle, vielleicht nicht im Detail, aber doch im Großen und Ganzen, denselben Gebrauch machen. Durchwegs betreibt Natalie die sanfte Zweckentfremdung der Wirklichkeit: Um sich zu beruhigen, betrachtet sie Salatköpfe; auch Glatzen freuen sie mitunter. In Gesprächen fühlt sie sich am wohlsten, wenn diese auf artistische Weise jeden Sinnzusammenhang vermeiden. Sie nimmt ihre Müsli-Kaugeräusche auf, um damit Ohrwürmer loszuwerden; Wörter sind für sie nicht vorrangig ihrer kommunikativen Funktion wegen da, sondern für ausschweifende Assoziationen. Als würde man ein Puzzle kaufen und daraus ein ganz anderes Bild zusammenbauen oder Fahrstuhl fahren der Musik wegen: Natalie ist ein wandelnder Life-Hack.

Ihrem Blick auf die Welt verdanken sich auch die zahlreichen kleineren Großleistungen, die sich auf fast jeder Seite finden: die Abhandlung über Straßenbauarbeiter etwa, die als "Parallelmenschheit" empfunden werden, "die man einfach machen ließ, weil sich ihre Aggression bislang immer nur gegen Straßen richtete"; ein niedriger Nussbaum, "der so aussah, als wäre ihm seine Brille ins Gras gefallen"; nicht zuletzt der allgemein geteilte und sehr komische Blüten treibende Hass auf Zivildiener.

Rolle des Schriftstellers

Neben der Verkehrung von Täter- und Opferrollen stellt Setz mit seinen Figuren auch (teils augenzwinkernd) die Rolle des Schriftstellers zur Diskussion: Dorm verschickt seine Stalker-Briefe, weil er muss. Natalie übt sich in abseitigen Vergleichen und gepflegten Nonsensgesprächen. Hollberg erzählt Geschichten, die den Leser an den Rand des Würgereizes bringen, und schreibt herrlich verstörende Kurzgedichte auf Dorm. In unterschiedlichen Mischungsverhältnissen und mit einer Tendenz ins Perfide führen die drei vor, was einen Autor – auch – antreiben kann: Zwang, Weltflucht und Sadismus.

Die eigentlich zentrale Frage des Textes ist eine grundlegend poetologische, die mit seinen Figuren überraschend handfest durchexerziert wird: Was kann man mit Sprache leisten – oder wahlweise: ausrichten, anrichten? Ein komplett sinnloser Satz kann einen Moment retten; eine kleine Erzählung kann an den Rand eines epileptischen Anfalls führen, und die verstörende Bilderwelt eines Geisteskranken, nicht zu vergessen, kann in den Selbstmord treiben. All diese Manipulationen funktionieren im Roman nicht etwa, weil sie 'überzeugen', sondern aufgrund der gewissermaßen heimlichen Nachbarschaften zwischen unseren inneren Bildern.

Die Spannweite des Hantierens mit Sprache umfasst hier alles von subtilem Einfluss bis zu brutaler Gewalt, von Experimentierlust bis zu Selbstverteidigung, von unerwarteter Leichtigkeit bis zu körperlichem Unwohlsein; streckenweise könnte das eine Handreichung aus einem NLP-Seminar für Soziopathen sein. Für einen Autor wie Setz geht es dabei wohl um die genuin literarische Frage nach den Verbindungen, die neben den landläufigen sonst noch zwischen Wörtern und Welt herrschen; um die Frage nach einer unterirdischen Wirkungsweise von Sprache, für die er vielleicht keine klaren Antworten liefert (warum sollte er auch), aber reichliches und prächtiges Anschauungsmaterial. (Bernhard Oberreither, 28.8.2015)