Bestimmt hätte es Johann Strauß gefallen, dass ihm die Welt zu Füßen liegt. Wahrscheinlich aber wäre er doch erstaunt, wie polyglott sein Publikum im Jahr 2015 ist. Es ist heiß an diesem Augustabend, aber das hält die drei chinesischen Mädchen nicht davon ab, sich vor den Sockel der goldenen Skulptur des Walzerkönigs im Wiener Stadtpark zu legen und für die restliche Reisegruppe zu posieren.

Der Park ist voller Menschen, es ist die Saison der saudi-arabischen Touristen. Sie ziehen in schwarz gewandeten Gruppen durch den Park, so zahlreich, dass, wären da nicht Johann Strauß und die rot-weiß-roten Rabatten des Wiener Stadtgartenamtes, man sich fast in Dubai oder Katar glauben könnte. Die Frauen waren shoppen, und das nicht zu knapp, wie die Luxuslogos auf den Papiertragetaschen zeigen. Den Kids, wenn auch nur den männlichen, hat man Segways gemietet, auf denen sie ihre lebensbedrohlichen Runden durch den Park drehen. Frauen und Mädchen lassen fahren, sie sind die begehrte Zielgruppe der Faxis, jener Fahrradrikschas, die in diesem Sommer wie Pilze aus dem Boden geschossen sind.

Neues Personal

Am nächsten Morgen hat sich das Bild gewandelt. Selbe Kulisse, aber völlig neues Personal. Jetzt hocken oder liegen auf den Parkbänken Menschen, die zwar möglicherweise auch Arabisch sprechen, die aber nicht mit Limousinen, sondern mit Schlepperautos angereist sind. Im Gebüsch lässt sich der eine oder andere Schlafsack ausmachen, zumeist aber tragen die Leute nichts bei sich. Sie haben es wahrscheinlich vom Donaukanal bis hierher geschafft, oder vom Prater. Dort, am Ende der Ostautobahn, wurden sie von ihren Transporteuren ausgesetzt, und für einige ist die Reise auch hier zu Ende.

Die meisten aber, die auf der Jesuitenwiese sitzen, in großen Abständen, um keinen Verdacht zu erregen, viele von ihnen Männer, davon einige vom Krieg versehrt, wollen weiter. Wie auch die zehnköpfige Familie, die an diesem Morgen unter der Rotundenbrücke hockt. Zwei Alte, ein paar Erwachsene und kleine Kinder zwischen drei und fünf, verstaubt bis zu den Knien. Sie sind erschöpft, haben Hunger, aber mehr noch Durst, der Alte versucht mit einer Blechdose Wasser aus dem Donaukanal zu schöpfen.

Ihr größtes Problem aber: Sie wissen nicht, wo sie sich befinden, an welcher Adresse sie gestrandet sind, und Fragen verbietet sich von selbst. Die Polizisten stehen nicht weit von ihnen entfernt. Sie wollen nach Deutschland, und ihr Weitertransport wartet in einem Hotel eines Wiener Außenbezirks auf sie. (Ein Passant wird ihnen helfen, sie mit Getränken und Proviant versorgen und zwei Taxis rufen. Die Taxifahrer kennen die Adresse ...) Das ist Wien im Sommer 2015, touristische Walzerseligkeit bei Tag, dramatischer Umschlagplatz bei Nacht, Schnittpunkt unzähliger Reiserouten, die einander doch nicht berühren.

Auf der Westautobahn

Auf der Westautobahn. Ein Freitag vor einem starken Reisewochenende. Während im Autoradio die Nachricht von einem weiteren verunfallten Schlepperauto verlesen wird, kann man auf der rechten Spur genau solche Kastenwagen beobachten. Sie sehen alle ähnlich aus. Wagen älteren Datums ohne Firmenaufdruck, mit bulgarischen, rumänischen, ungarischen Kennzeichen. Wie viele Menschen werden da wohl nebenan, auf der Nachbarspur gerade eingepfercht sitzen? Zehn? Fünfzehn? Zwanzig?

Und wer sind die Leute, die auf dem Asphalt des Parkplatzes bei der nächsten Raststätte ein Tuch ausgebreitet haben und gemeinsam mit ihren Babys auf dem Boden essen? Auch Flüchtlinge? Oder einfach Reisende aus dem Südosten Europas, denen das Kleingeld für "Sommerlichen Salat mit Kernöl" oder "Kinderschnitzel Pinocchio" fehlt?

Europa ist in Bewegung, allerdings nicht so, wie sich das viele gewünscht haben. Sondern wie ein aus den Fugen geratenes krakenhaft verzweigtes System, von dem wir nur einen Bruchteil festmachen können. Menschenströme, wie von einem gespenstischen illegalen Reisebüro gelenkt, von unterirdischen Airbnbs verschluckt. Denn, so dramatisch die Bilder von den Flüchtlingszentren auch sein mögen, die Frage, die sich stellt, ist doch: Wo sind all die, die "durchgewinkt" werden, oder die, denen es gelingt, auf ihrer Odyssee am Ende irgendwo anzukommen?

Vielleicht ist es ja nicht nur die Angst vor Islamisierung und die berechtigte Sorge vor hohen sozialen Kosten. Vielleicht ist es das Schattenhafte, das vielen Menschen Angst macht. Die gut vernetzte Mobilität vieler Flüchtlinge bei gleichzeitiger Unsichtbarkeit. Eine Lawine, von unsichtbarer Hand gelenkt.

Archaisches Prinzip

Das würde auch die Empörung erklären, die der Anblick des "Flüchtlings mit Smartphone" bei so vielen auslöst. Es ist nicht mehr das archaische Prinzip des heimatlosen Menschen, der mit einem Koffer in der Hand auf Herbergssuche geht. Es ist der neue Mensch, der, nur mit einem Handy am Leib, überall und nirgends zu Hause ist. (Clarissa Stadler, 28.8.2015)