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Ein Transitbereich für Flüchtlinge am Keleti-Bahnhof vergangene Woche.

Foto: EPA / SZILARD KOSZTISCAK

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Schlange stehen für Essen.

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Kurz nach drei viertel sieben fährt der Nachmittagszug von Wien nach Budapest im Keleti-Bahnhof ein. Ich gehe zu der Bushaltestelle über den U-Bahnhof. Es ist alles wie immer, Menschen sind auf dem Weg nach Hause, Touristen informieren sich über die nächste U-Bahn, Verkäufer bieten ihre Waren an. Doch plötzlich erblicke ich etwas Neues. Ich sehe größere Gruppen von Menschen, die auf dem Boden sitzen oder stehen. Zuerst erstaunt es mich nur, dass die Zahl der Flüchtlinge so merklich gestiegen ist, seitdem ich das letzte Mal hier war. Doch der Anblick von dem, was mich einige Meter später erwartet, auf den bin ich nicht vorbereitet.

Schaut man von der Bushaltestelle nämlich hinunter zur U-Bahn-Überführung, sieht man hunderte kampierende Flüchtlinge – Männer, Frauen, Kinder. Sie sitzen auf Tüchern, auf Isomatten, vereinzelt sind kleine Zelte aufgestellt. Die Erwachsenen unterhalten sich, die Kinder spielen Ball, ein Mädchen wiegt sich hin und her. Sie sitzt alleine auf einer bunten Decke. Als ihre Mutter kommt, bricht sie in Tränen aus. Ich schaue mich um, aber ich sehe keine Möglichkeiten, um sich zu waschen, wie ein Mensch zu leben zu können. Ich bin wie erstarrt, es ist, als wäre der Krieg auf einmal mitten vor meinen Augen. Als würde ich auf einmal mitten in einem Flüchtlingslager stehen.

Wir können nicht mehr wegschauen

Bisher haben wir unser schlechtes Gewissen darüber, dass es Menschen auf der Welt gibt, die in Armut, Hunger und Krieg leben, zum Schweigen bringen können, indem wir einmal im Jahr – meist vor Weihnachten – etwas gespendet haben. Oder auch einfach den Fernsehkanal gewechselt haben, wenn die Berichte über all das Schlechte in der Welt kamen. Das alles ging uns nicht wirklich etwas an. Diese Länder waren so weit weg. Wir waren froh darüber, in Europa geboren zu sein, in einer Zeit, wo es keinen Krieg mehr gibt.

Das Ende unserer heilen Welt

Aber nun stehen diese Menschen, denen es so viel schlechter geht und ging als uns, auf einmal vor uns. Und nun können wir nicht mehr so leicht wegschauen. Ich denke, das frustriert viele, und viele reagieren mit Aggressivität, Menschenfeindlichkeit und Intoleranz auf dieses Ende unserer heilen Welt. Viele wünschen sich diese Welt zurück. Eine Welt ohne schlechtes Gewissen, in der man den All-inclusive-Urlaub in Griechenland, den Caffè Latte am Bahnhof, die Bahn- oder Autofahrt von Budapest nach Wien entspannt genießen konnte, ohne die Armut und Krieg und manchmal sogar den Tod direkt vor Augen zu haben.

Gespaltene Gesellschaft

Was einem begegnet am Keleti-Bahnhof, ist eine gespaltene Gesellschaft. Arm und Reich, Menschen, die ein Heim haben und auf dem Weg dorthin sind, und Menschen, die alles verloren oder aufgegeben haben und nicht wissen, wie es morgen weitergeht.

Gäbe es keine freiwilligen Helfer hier, dann würden diese Menschen überhaupt nicht versorgt werden. Es sind Zivilisten, die Nahrungsmittel und Wasser bringen, die Spenden sammeln und die Flüchtlinge mit Informationen über rechtliche Fragen in ihrer Muttersprache versorgen.

Doch sie sind überfordert von der Größe der Aufgabe, vor die sie gestellt sind. Die Regierung aber berät über die Frage nicht unter dem Aspekt, was sie tun könnte, um die Lage dieser Menschen menschenwürdig zu machen, sondern mit welchen strengeren Gesetzen sie gegen die Flüchtlinge vorgehen könnte – und will nun Grenzübertretung unter Gefängnisstrafe stellen. Ich bin sehr geknickt und will nicht mehr wegschauen. (Regina Fritz, 29.8.2015)