Vorwürfe gegen den Staatschef: Erdogan führe Krieg, um die Wahlen zu beeinflussen und wieder allein regieren zu können, sagt Demirtaş.

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STANDARD: Die Neuwahlen am 1. November werden alle Probleme lösen, die durch die Parlamentswahl im Juni entstanden sind, sagt Staatspräsident Tayyip Erdogan. Ist das so?

Demirtaş: Was Erdogan als Problem sieht, ist, dass die AKP nicht mehr allein regiert. Kann sie wieder allein regieren, ist für ihn das Problem gelöst.

STANDARD: Sie glauben, dass Ihre Partei HDP bei der Wahl noch zulegen wird. Warum?

Demirtaş: Ja, wir werden Stimmen dazugewinnen. Die Menschen in der Türkei wollen Frieden, sie wollen zusammenleben. Sie sehen aber, dass Erdogan in die Alleinregierung vernarrt ist. Dass er den Krieg benutzt, um die HDP unter die Sperrklausel zu drücken. (Für den Einzug ins türkische Parlament muss eine Partei landesweit mindestens zehn Prozent erreichen, Anm.) Das ist der Hauptgrund, warum die Menschen die HDP unterstützen.

STANDARD: Im vergangenen Wahlkampf kam die Polizei zu Ihnen nach Hause in Diyarbakir. Fürchten Sie, dass Sie dieses Mal verhaftet werden könnten?

Demirtaş: Nein, das glaube ich nicht. Ich bin Abgeordneter und genieße Immunität. Die Lage ist jetzt natürlich sehr angespannt. Aber auch beim letzten Mal, als wir einen lockeren, fröhlichen Wahlkampf gemacht haben, gab es insgesamt 167 Angriffe auf unsere Wahlveranstaltungen und Parteibüros. Wir werden versuchen, auch dieses Mal das Beste daraus zu machen.

STANDARD: Wie ist der Friedensprozess zwischen den Kurden und dem türkischen Staat eigentlich zu einem Ende gekommen?

Demirtaş: Erdogan wollte einen Frieden ohne Demokratie. So hat er es sich in seinem Kopf vorgestellt. Er wollte mit dem Friedensprozess nicht die Demokratisierung der Türkei antreiben, sondern nur die PKK vernichten. Das ist ihm nicht gelungen, und das ist der Grund, weshalb er vom Verhandlungstisch aufstand und den Friedensprozess beendete. Seine Idee war, die PKK sollte die Waffen niederlegen und er könnte dann eine Ein-Mann-Diktatur errichten. Erdogan hat sich an keine der Abmachungen gehalten, die verhandelt worden waren.

STANDARD: Sie haben die PKK dazu aufgerufen, "ohne Wenn und Aber" die Angriffe einzustellen. Haben Sie den Eindruck, dass Sie gehört werden?

Demirtaş: Die Waffen "zum Schweigen bringen", habe ich gesagt. Ich habe zu einem Waffenstillstand aufgerufen. Die PKK beachtet uns, weil die Bevölkerung hinter uns steht. Wir sind die Stimme der Bevölkerung. Die PKK aber sagt: Ein Waffenstillstand ist gut und nützlich, aber solange es Operationen der türkischen Armee gibt, ist er nicht möglich. Der Waffenstillstand muss von beiden Seiten ausgehen. Deshalb versuchen wir auch, mehr Druck auf den Staat als auf die PKK auszuüben. (Markus Bernath, 28.8.2015)