Warschau/Moskau – Polnische Ex-Geheimdienstagenten, die unter dem Namen "Wiener Gruppe" bekannt sind, sollen über 700 Stunden an geheimen Tonaufnahmen aus der Villa des ehemaligen Premiers Donald Tusk verfügen. Die Gruppe soll das Material vornehmlich Interessenten aus Wien angeboten haben, berichtet die polnische Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" am Donnerstag.

Unter den Aufnahmen findet sich auch ein Gespräch zwischen Tusk und dem kürzlich verstorbenen Geschäftsmann Jan Kulczyk aus dem Jahr 2014. Kulczyk, der als reichster Mann Polens galt, verlangte darin den Schutz des Geheimdienstes ABW für seine Geschäfte in der Ukraine.

Dort befürchtete er eine Provokation Russlands. Laut eines Mitarbeiters von Kulczyk plante dieser den Bau einer "Energie-Brücke", die die Ukraine mit der EU verbinden sollte. Kulczyk verfügte außerdem über die Bewilligung von Kiew für die Beteiligung an einer Modernisierung von ukrainischen Atomkraftwerken.

Haubenrestaurant "Sowa & Przyjaciele" betroffen

Laut Ermittlungen, die der "Gazeta Wyborcza" vorliegen, wurde bei dem Treffen zwischen Tusk und Kulczyk Catering aus dem Warschauer Haubenrestaurant "Sowa & Przyjaciele" geliefert. Mehrere prominente polnische Politiker und Geschäftsleute wurden dort zuvor mindestens eineinhalb Jahre lang abgehört.

Das Nachrichtenmagazin "Wprost" hatte die gigantische Lauschaffäre in Polen mit der Veröffentlichung von illegal abgehörten Gesprächen Anfang Juni 2014 ins Rollen gebracht. Laut der Staatsanwaltschaft wurden bei rund 100 Treffen 90 verschiedene Personen abgehört. Beinahe alle bisher untersuchten Aufnahmen betrafen Politiker der regierenden, rechtsliberalen Bürgerplattform (PO).

Die Abhöraffäre hatte die Regierung unter dem aktuellen EU-Ratspräsidenten Tusk in eine schwere Krise gestürzt. Sie führte im Herbst 2014 zu mehreren Misstrauensabstimmungen im Parlament, die sich sowohl gegen einzelne Regierungsmitglieder als auch gegen die gesamte Regierung richteten. Obwohl alle Abstimmungen scheiterten, hat die PO starken Imageschaden genommen. Der Inhalt der abgehörten Gespräche, aber auch hohe Rechnungen auf der Dienstkreditkarte und luxuriöse Restaurantbesuche festigten das Klischee der PO als "Partei der Reichen", die sich zunehmend von den Durchschnittsbürgern entfremdet hatte. (APA, 27.8.2015)