Der Mann hat eine Mission: der Designer Raf Simons (links) im Kreise seiner Models und Mitarbeiter.

Foto: Sophie Carre

Am Ende kullern die Tränen. Bevor die Kollektion, die in den Wochen zuvor im Eiltempo entstanden ist, präsentiert wird, zieht sich Raf Simons auf die Dachterrasse zurück. Acht Wochen hatte er Zeit, um die erste Haute-Couture-Kollektion seines Lebens zu entwerfen. Acht Wochen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Jetzt, Minuten bevor die Show losgeht, sind die Tränen nicht mehr zu halten.

Die Geschichte, die Regisseur Frédéric Tcheng in seinem Dokumentarfilm "Dior und ich" erzählt, ist die Geschichte einer Aneignung: Raf Simons auf den Spuren des großen Christian Dior. Nachdem der Theatraliker John Galliano nach antisemitischen Äußerungen als Chefdesigner von Dior auf die Straße gesetzt wurde, übernahm der Belgier Raf Simons die Geschicke des Modehauses – zwei Designer, deren Zugang zur Mode nicht unterschiedlicher sein könnte. Ein Besessener, schwierig, kunstverrückt, einer, der dort, wo Galliano Rüschen designte, die klare Linie bevorzugt.

Als Designer von Jil Sander hatte sich Simons in die A-Liga der Mode vorgearbeitet. Mit dem Job bei Dior ist er nun im Olymp angekommen. Höher hinaus geht nicht. Von Anfang an lässt der Film daran keine Zweifel aufkommen. Der Geist von Monsieur Dior höchstpersönlich, heißt es einmal, spuke in den Ateliers, in die Simons mit seinem Assistenten und Getreuen Pieter Mulier einzieht. Die Marketingabteilung von Dior dürfte sich gefreut haben, als klar war, dass sich der medienscheue Simons in seinem neuen Job von einem Filmteam über die Schultern schauen lässt.

Aus dem Hinterzimmer

Es ist Tcheng zu verdanken, dass daraus kein Werbefilm entstanden ist. Modefilme als Marketinginstrumente gab es zuletzt viele. "Dior und ich" dürfte dagegen auch Menschen interessieren, die mit Mode weniger am Hut haben. Der Film zeigt neben den Hinterzimmern der Mode – den Ateliers, in denen die "petites mains" an den Kreationen arbeiten, die oft mehrere Zehntausend Euro kosten, den Pressebüros und Vorstandszimmern – den Einbruch eines Fremden in ein perfekt eingespieltes System. Raf Simons ist alles andere als ein Sympathieträger – diese Rolle wird von seinem Assistenten übernommen. Seine Vorstellungen von Mode sind stärker von moderner Kunst als von den Archiven der Haute Couture geprägt.

Kampf gegen die Zeit und das System

Als er sich in den Kopf setzt, mit einem Motiv des Künstlers Sterling Ruby einen Seidendruck zu gestalten, erntet er entsetzte Gesichter. Und als er auf die Idee kommt, seine Kollektion in einer mit Millionen von Blüten ausstaffierten Villa zu zeigen, rollt seine Umgebung die Augen. Selten hat man beobachten können, mit welcher Hingabe und auch Verbissenheit Visionen Gestalt annehmen – und wie groß dabei die Fallhöhe sein kann. Es ist nicht nur ein Kampf gegen die Zeit, das System und die Routine, die dieser Film zeigt, sondern auch einer gegen eine übermächtige Gründerfigur.

Nur elf Jahre (1946 bis 1957) leitete Christian Dior die Geschicke des auf seinen Namen lautenden Modehauses. Das reichte allerdings aus, um ein neues Kapitel in der Modegeschichte zu schreiben. Es ist sein Vermächtnis, das jeder Designer nach ihm gleichzeitig zu respektieren, aber auch zu erneuern hat. Immer wieder werden in dem Film Zitate aus Diors Memoiren aus dem Off eingespielt. Es ist klar, dass sich Simons gleichzeitig verbeugen und dem Gründer in den Allerwertesten treten muss.

In einem anderen Metier würde dies wahrscheinlich zu einem Kampf der Giganten stilisiert werden. "Dior und ich" ist aber auch eine Hommage an all die Schnittmacherinnen, Näherinnen und Stickerinnen, die teilweise seit Jahrzehnten die Herren Designer kommen und gehen sehen. Am Ende verbeugt sich Raf Simons vor ihnen – nachdem er sich seine Tränen aus dem Gesicht gewischt hat. (Stephan Hilpold, Rondo, 3.9.2015)