Der mutmaßliche Thalys-Attentäter ist formal identifiziert worden. Bei dem Verdächtigen handle es sich um einen Marokkaner, der von den spanischen Geheimdiensten als radikaler Islamist eingestuft worden sei, verlautete am Samstag aus Pariser Polizeikreisen. Der junge Mann war mit einer Kalaschnikow, einer Pistole und einem Teppichmesser bewaffnet, als er in Brüssel in den Thalys von Amsterdam nach Paris stieg.

Es hätte eigentlich noch viel schlimmer kommen müssen. Blutspritzer an den Fenstern und auf den Sitzen zeugten am Tag nach der Tat von der Gewalt des Anschlags. Am Freitag um 17.50 Uhr hatte ein junger Mann im Hochgeschwindigkeitszug Amsterdan-Paris das Feuer auf andere Fahrgäste eröffnet. Er schoss zuerst zwei Männer in den Hals und den Rücken.

Im hintersten Wagon brach Panik aus, die Passagiere gingen hinter den Sitzen in Deckung. So auch zwei amerikanische Soldaten. Der eine, Alek Skarlatos (22), besann sich aber und rief seinem Kumpan Anthony Sadler (23) zu: "Let's go!" Die beiden stürzten sich auf den Schützen. Ihr Freund Spencer Stone machte mit und wurde von dem Messerstich verletzt, als er den Täter in den Schwitzkasten nehmen wollte. Skarlatos und Sadler sowie ein 62-jähriger britischer Rugbytrainer packten ihrerseits das Sturmgewehr und schlugen so lange auf den Kopf des Attentäters ein, bis er bewusstlos zu Boden stürzte.

Zwanzig Minuten später hielt der Zug in der nordfranzösischen Stadt Arras. Die Verletzten wurden ins Spital gebracht; der verwirrte, vermutlich unter Drogen stehende Täter verlangte seine Waffen zurück, bevor er abgeführt wurde.

Aufmerksamer Fahrgast

Erst jetzt realisierten die Passagiere, wie knapp sie einem mörderischen Amoklauf entgangen waren. Der Täter hatte neun Magazine à 30 Schuss dabei – potenziell genug, um die Hälfte der 560 Passagiere zu treffen. Dass er so rasch überwältigt wurde, war wohl auch einem Franzosen zu verdanken, dem es suspekt vorkam, als der aus Marokko stammende Täter mit einem größeren Rucksack in der Toilette verschwand. Von außen hörte er offenbar metallische Ladegeräusche und versuchte den Täter, als dieser mit nacktem Oberkörper aus der WC-Tür trat, erfolglos zu überwältigen.

Diesen Umstand hob Innenminister Bernard Cazeneuve am Samstag besonders hervor. Zuvor hatte US-Präsident Barack Obama seine Landsleute Skarlatos, Sadler und Stone "Helden" genannt. Le Figaro titelte darauf: "Ein Franzose griff als erster ein."

Das galt nicht für das Bahnpersonal. Der französische Schauspieler Jean-Hugues Anglade, der im Hinterteil des Zuges reiste und bei dem Amoklauf leicht verletzt wurde, richtete schwere Vorwürfe an die Zugsbegleiter. Sie seien mit angsterfüllten Mienen und gebückt davongerannt, um sich mit ihrem Spezialschlüssel in ihrem Arbeitsabteil einzuschließen, schilderte er ihre Reaktion. Mehrere Passagiere hätten gegen ihre Tür gepoltert und vergeblich "öffnet die Türe" geschrien. Die französische Staatsbahn SNCF meinte dazu: "Das Personal hat seine Mission erfüllt."

Identität zunächst verschwiegen

Minister Cazeneuve verschwieg zuerst die Identität des Täters und zögerte, von einem "Terrorakt" zu sprechen. Darauf verlautete aber aus Polizeikreisen, der 26-jährige Franko-Marokkaner sei bei der spanischen Polizei wegen Zugehörigkeit zu einer islamistischen Vereinigung registriert gewesen. Mittlerweile ist er formal identifiziert worden und namentlich benannt.

Dem Vernehmen nach reiste der mutmaßliche Islamist im Mai 2015 von Deutschland über Istanbul nach Syrien. Das entspräche dem Profil anderer französischer Attentäter, die in den letzten Monaten Anschläge verübt hatten – von der Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar bis zu einer Gasfabrik in Lyon im Juni.

Die Häufung solcher Attentate erklärt wohl teilweise die vorsichtige Reaktion der französischen Regierung. Sie will um alles einen Wiederholungseffekt vermeiden – wohl wissend, dass aus französischen Vorstädten hunderte von jungen Männern und Frauen in den Dschihad gereist sind. Einige wurden nach ihrer Rückkehr mit konkreten Attentatsplan gefasst. Die Geheimdienst-Kontrolleure sind, auch wenn ständig aufgestockt, durch die Zahl dieser Amateur-Dschihadisten aus der Banlieue völlig überfordert. Der TGV-Attentäter war zum Beispiel dank dem Hinweis aus Spanien in einer so genannten "S-Fiche" als Islamist geführt; er wurde aber wie zuvor der Enthaupter von Lyon, nicht weiter überwacht.

Keine Kontrollen

Pariser Medien schienen am Samstag zu entdecken, dass es im Thalys zwischen Amsterdam, Brüssel und Paris keine Gepäckskontrollen gibt, im "Eurostar" zwischen London und Paris hingegen schon. Eine Thalys-Passagierin meinte zwar gegenüber einer Fernsehstation, wenn im TGV die gleichen Sicherheitskontrollen eingeführt würden wie an Flughäfen, verliere der Zug den Zeitvorteil. Viele Zugsgäste zeigten sich aber sehr besorgt, dass nun auch die Eisenbahn Ziel eines Attentats geworden sei. Einer sagte konsterniert, das Reisen im TGV werde plötzlich etwas weniger bequem und entspannt als auch schon. (Stefan Brändle, 23.8.2015)