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Früher, mag man glauben, war alles besser. Sagt die Erinnerung. Sogar die Zukunft, ergänzt der Zynismus. Lachen am Stammtisch. Ja, sogar die Zukunft, bestätigt die Meinungsforschung – und legt Zahlen vor, die dem Stammtisch vielleicht ein wenig kompliziert erscheinen mögen: Noch vor ein, eineinhalb Jahrzehnten meinte etwa die Hälfte der Bevölkerung, dass sich Österreich so alles in allem in die richtige Richtung entwickle. Jetzt glauben das gerade noch 19 Prozent.

Sag ich's doch, schallt es vom Stammtisch. Hier sitzen sie, die satten Pessimisten. Die Wähler von Protestparteien. Diese Mehrheit, die sagt, sich in den letzten Wochen über die EU geärgert zu haben. Jene 49 Prozent, die sich über die Bundesregierung ärgern – mehr noch als über den Straßenverkehr, die Arbeit oder auch das eigene Einkommen.

Nur jeder 50. ist unglücklich

Ehrlich gesagt: Geht es jemandem hier schlecht? Na ja. Persönlich eigentlich nicht. Die Meinungsforscher fassen das gerne in die Frage: "Wenn jemand über Sie sagen würde: Das ist ein glücklicher Mensch, hätte er oder sie dann recht?" Und seit Jahren antworten darauf nur maximal vier Prozent (in einer Umfrage in der Vorwoche waren es gar nur zwei Prozent), dass die Behauptung ganz und gar falsch wäre, weitere zwölf Prozent bezeichnen sich als "eher nicht" glücklich.

Aber 86 Prozent – auch dieser Wert ist über die Jahre weitestgehend konstant – bezeichnen sich als "eher schon" oder "auf jeden Fall" glücklich. Der Anteil der völlig glücklichen Menschen an der österreichischen Bevölkerung beträgt aktuell 25 Prozent, er schwankt erfahrungsgemäß zwischen 23 und 31 Prozent.

Warum also das Geraunze?

Es mag im Volkscharakter liegen, wie Dichter vermutet haben: "S' war ned Wien, wann net durt, wo ka Gfrett is, ans wurt, denn des Gfrett ohne Grund gibt uns Kern, halt uns g'sund", analysierte Josef Weinheber in Wien wörtlich.

Historisch bedingtes Nationalgefühl

Es mag auch an der Geschichte liegen, wie Stephan Rudas in Österreich auf der Couch vermutete: Die österreichische Seele ist ja geprägt vom Scheitern verschiedener emanzipatorischer Ansätze, von einem Arrangement mit der Obrigkeit (wie es auch der vorgenannte Weinheber der Nazi-Diktatur gegenüber praktiziert hat) bei gleichzeitiger innerer Distanz zu deren jeweiligen Vorgaben. So überstanden die Österreicher Habsburg und Hitler, so schwindelten sie sich bei der Gegenreformation durch, und so halten sie es auch in der Demokratie.

"Allein, was not tut und was Gott gefällt, / der klare Blick, der offne, richt'ge Sinn, / da tritt der Österreicher hin vor jeden", schrieb Grillparzer vor 190 Jahren – nicht ohne zu spotten, dass der Österreicher dann eben nicht die Initiative ergreift, gestaltet, verändert, sondern er tut was? "Denkt sich sein Teil und lässt die anderen reden!" Geschimpft wird dann im Privaten.

Denn so recht zufrieden kann man nicht mit sich und der Welt sein, wenn man sich so verhält.

Nun ließe sich einwenden, dass die politische Situation heute doch ganz anders sei als im Biedermeier: Kann man denn nicht frei seine Meinung sagen, kann man nicht frei wählen?

Doch, kann man. Aber man merkt eben immer weniger, dass das etwas bewirken würde.

Richtungsentscheidungen sind unmöglich

Tatsächlich konnte man bei einer Nationalratswahl vor 40 oder 50 Jahren noch eine klare Richtungsentscheidung fällen: 1966 fiel diese mehrheitlich zugunsten der ÖVP aus. Österreich bekam die biedere Alleinregierung von Josef Klaus, der wirtschaftlich modern, gesellschaftlich aber konservativ agierte.

Vier Jahre später war Schluss damit: 1970 wurde Bruno Kreisky mit relativer, 1971 und zwei weitere Male mit absoluter Mehrheit gewählt. Kreisky modernisierte das Land gesellschaftlich.

Gemeinsam war Klaus und Kreisky, dass sie jeweils gut die Hälfte der Bevölkerung hinter sich hatten.

Kreiskys Großzügigigkeit – bei Faymann undenkbar

Da kann man großzügig sein: Klaus konnte das Rundfunkvolksbegehren umsetzen, das seiner Gefolgschaft ebenso wenig schmeckte wie die 40-Stunden-Woche, bei der er dem Druck der Linken nachgab. Kreisky wiederum nahm etwa bei der Straffreistellung der Abtreibung, der betrieblichen Mitbestimmung oder der Öffnung der privaten Wälder für alle Erholungsuchenden auf die Befindlichkeiten von Kirche, Wirtschaft und Volkspartei Rücksicht – und opferte das von ihm propagierte Atomkraftwerk Zwentendorf einer Volksabstimmung.

Dennoch bekamen die Kreisky-Wähler im Wesentlichen das, was sie wollten. Und die Kreisky-Gegner waren mit der Regierung und dem von ihr bestimmten Kurs des Landes nicht ganz unzufrieden. Auch wenn an den schwarzen Stammtischen damals auch ganz kräftig auf die Roten geschimpft wurde – und umgekehrt. Aber in der hohen Politik herrschte den scharfen ideologischen und sachpolitischen Gegensätzen zum Trotz ein gewisser Konsens.

Wer die Hälfte der Bevölkerung hinter sich weiß, kann eben dem anderen Teil ein wenig entgegenkommen. Das hat sich mit der Auflösung des Zweiparteiensystems (die FPÖ spielte bis 1986 nur zweimal als Mehrheitsbeschaffer der SPÖ eine kleine Rolle) in den 1980er-Jahren gründlich geändert. Es ist nur nicht gleich aufgefallen.

Die EU als Projekt der großen Koalition

Denn die große Koalition, zu der Österreich 1987 zurückgekehrt ist, hat bei aller gefühlten Zerstrittenheit immerhin ein großes gemeinsames Problem (die Isolation des Landes nach der Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten) und ein großes gemeinsames Projekt (den vor allem in der SPÖ umstrittenen Beitritt Österreichs zur Europäischen Gemeinschaft) zu bewältigen gehabt. So etwas schweißt zusammen, so etwas hält auch die eigenen Leute bei der Stange beziehungsweise am eigenen Stammtisch. Aber nur, solange diese verbindenden Elemente bestehen.

Und es eröffnet auch Angriffsflächen – Jörg Haider hat sie genutzt.

Haider und die Grünen gegen die "Altparteien"

Da war viel taktisches Kalkül dabei; er musste nur das eine oder andere Unbehagen von den Stammtischen auflesen und darstellen, dass er und seine Partei (oder "Bewegung", wie es zeitweise hieß) eben "anders" wären als die "Altparteien".

Das war, abgesehen von Diktion und Inhalt, auch der strategische Ansatz der gleichzeitig aufgetretenen Grünen Alternative: ein bisschen "Nichtpartei" sein, an den Stammtischen das Unbehagen abholen – im Fall der Grünen war es eben das Unbehagen über die Ungerechtigkeiten im liberalen Wirtschaftssysten, die Umweltverschmutzung oder (ganz ähnlich wie bei Haider) die behauptete politische Verkrustung des Landes. Diese Verkrustung wurde dann auch nach und nach aufgebrochen – aber das konnte weder die rechten noch die linksintellektuellen Stammtische zufriedenstellen.

Enttäuschung der Wähler liegt am System

Im Gegenteil: Im inzwischen auf sechs Parlamentsparteien fragmentierten System muss beinahe jeder Wähler enttäuscht werden. Die Wähler der Oppositionsparteien bekommen sowieso nicht das, wofür sie gestimmt haben.

Und die Wähler der Regierungsparteien erst recht nicht: Wer etwa 2013 die ÖVP gewählt hat, weil sie eine "Entfesselung der Wirtschaft" versprochen hat, wird unzufrieden damit sein, dass er seine Partei in einer Koalition mit der regelungsgläubigen SPÖ wiederfindet. Umgekehrt werden SPÖ-Wähler enttäuscht sein, dass ihre Partei das Versprechen gebrochen hat, Erbschaftssteuern einzuführen. Geht eben nicht mit so einem Koalitionspartner.

Zudem sind beide Regierungsparteien so schwach, dass ihre Chefs nicht die Großzügigkeit eines Klaus oder Kreisky zeigen können – einem Mitterlehner oder einem Faymann würde solche Großzügigkeit als Schwäche ausgelegt werden. Am Stammtisch kommt das gar nicht gut an.

"Kampf" statt "Meinung"

Das hat ein wenig auch mit der geänderten Tonlage zu tun, die im politischen Diskurs Platz gegriffen hat. Während Kreisky seine Vorhaben noch mit dem legendären Spruch "Ich bin der Meinung" ankündigen konnte und dafür am Stammtisch Wohlwollen erntete, müssen heutige Politiker für ihre Vorschläge "kämpfen".

Das mag für Medienkonsumenten spannender klingen als ein bloßer Meinungsaustausch. Es erzeugt aber auch das Bild von stets unvollständigen Siegen und stets blamablen Niederlagen. Da kann es in der Politik keine Macher geben, Heroen schon gar nicht.

Helden kann es allenfalls in der Opposition geben, Maulhelden zumal – die Wähler und Funktionäre der Freiheitlichen haben bei ihrer Regierungsbeteiligung unter Wolfgang Schüssel schmerzlich erfahren müssen, dass die großen Forderungen oppositioneller Politiker im Regierungsalltag längst nicht mehr so glänzen. Der Stammtisch mault und jammert, dass "die da oben" ohnehin unterschiedslos Lügner, Gauner oder beides wären. Das haben die Freiheitlichen ja selbst lang genug behauptet.

Plötzlicher Neid auf Sozialleistungen

Dazu kommt ein langfristiger Trend zur Entsolidarisierung, von dem die jeweilige Opposition profitiert: In den 1960er- und 1970er-Jahren wurde neidlos auf jene Beschäftigten geschaut, die besondere betriebliche Sozialleistungen – einen Sportplatz hier, ein Gratisessen dort und am Ende auch eine Zusatzpension – zu bieten hatten. Das galt als erstrebenswertes Ziel, das eines Tages alle Beschäftigten erreichen sollten. Noch in den 1980er Jahren beschloss der ÖGB, dass alle Pensionen auf das Niveau der Beamtenversorgung angehoben werden sollten.

Dann aber wurde (durchaus nicht nur von der FPÖ) Neid gesät.

Und die Saat ging auf, in Form von Privilegien- und Sozialschmarotzerdebatten.

Das hatte tatsächlich üble Folgen, nicht nur an den Stammtischen, an denen ausgiebig über die vermeintlich ungerechtfertigte Bevorzugung einiger Bevölkerungsgruppen geschimpft werden kann; sondern auch bei den angeblich Privilegierten.

Gestrichene Zusatzleistungen

So gibt es zehntausende Pensionisten, denen ihre Zusatzleistungen gestrichen wurden (selbst jene, die sie sich in langer Tätigkeit für den Gewerkschaftsbund erarbeitet hatten), Beamte, denen längst keine Beamtenpension mehr winkt und natürlich Ausländer, die bei weitem nicht so gut "auf unsere Kosten" versorgt werden, wie es die Stammtischbrüder vermuten.

Zu Recht hat man den Neid als die schlimmste der sieben Todsünden bezeichnet – zu einer Zeit, als "Sünde" noch eine moralische Kategorie war. Aber in solchen von der Religion vorgegebenen Kategorien denkt man heute kaum noch, sagt der Meinungsforscher: Die Abkehr vom Christentum steht immer zu Weihnachten und Ostern, durch Umfragen dokumentiert, in den Zeitungen. Die Stammtischrunde nickt.

Besseres Leben im Diesseits

Kann noch jemand das Credo fehlerfrei beten? Glaubt noch jemand daran? Als der STANDARD im Vorjahr das Katholische Glaubensbekenntnis in einer Umfrage abtesten ließ, bekannten sich nur noch 36 Prozent zur Auferstehung der Toten, 46 Prozent zum ewigen Leben. Denn über die vergangenen Jahrzehnte ist der von den monotheistischen Religionen gepredigte Glaube an ein besseres Leben im Jenseits nach und nach von einem Glauben an ein besseres Leben im Diesseits abgelöst worden.

Die Kinder sollen es halt einmal besser haben, murmelt es am Stammtisch. Und das Rezept dafür heißt: Wachstum. Wer auf die Predigten der Priester nicht hören will, hört auf die Predigten der Ökonomen und der Politiker.

Die Heilsbotschafter des Wachstums sind aber in letzter Zeit auch leiser geworden.

War es also früher besser?

Jedenfalls war es früher einfacher. Solange man sich auf ein besseres Leben im Jenseits einstellen konnte, sowieso – da hat man am Stammtisch und in der Kirche das elende Leben hienieden beklagen können; und Hoffnung auf ein Leben in Fülle auf die Zeit nach dem Tod verschieben.

Glaubt eben nur noch eine Minderheit.

Das Wachstum-Festisch verblasst

Aber an ein ewiges Wohlstandswachstum kann man auch immer schwerer glauben, grummelt es vom Stammtisch. Sind wir nicht alle irgendwie Verlierer? Haben wir nicht recht mit unserem Neid? Sollen nicht die anderen ein bisserl schlechtergestellt werden, wenn es schon uns nicht mehr stetig bessergeht?

Ja, all diese Motivlagen gibt es am Stammtisch. Und dazu die trotzige Ansage, dass die Demokratie ja dazu da wäre, Unmut auszudrücken – ob dieser nun berechtigt ist oder auch nicht. (Conrad Seidl, 22.8.2015)