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Trotz Krise ist die Wirtschaftsleistung Österreichs in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Die Haushaltseinkommen sind zuletzt leicht zurückgegangen, liegen netto aber immer noch über dem Niveau der vergangenen zehn, fünfzehn Jahre. Für den Konsum bleibt genug Geld.

Foto: APA/HERBERT PFARRHOFER

Der Euro hat einen Teuerungsschub gebracht, der in der Geschichte Österreichs beispiellos war. Der Euro ist ein Teuro: Dieses weitverbreitete Vorurteil kennen die meisten Österreicher aus ihrem nahen Umfeld. Jährlich durchgeführte Umfragen nach Einführung der Gemeinschaftswährung als Zahlungsmittel im Jahr 2002 sprachen eine klare Sprache. Rund zwei Drittel gaben regelmäßig an, dem Euro negativ gegenüberzustehen, weil die neue Währung die Inflation dramatisch nach oben getrieben habe. Spürt man diese Entwicklung nicht auch heute im Geldbörsel? In den gutbürgerlichen Wiener Kaffeehäusern zahlt man vier Euro, also 55 Schilling, für einen großen Braunen – wo hat es das früher gegeben?

An dieser Darstellung gibt es einen Schönheitsfehler: Sie ist falsch. Der Euro ist kein Teuro. Volkswirtschaftlich gesehen war die Periode nach 2002 die Phase mit einer der niedrigsten Inflationsraten in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Ende der 1960er-Jahre und in den goldenen 1970ern lag die Teuerungsrate zwischen 4,9 und 5,5 Prozent jährlich. Auch in den 1980ern und Anfang der 90er-Jahre war die Inflation höher, seit 1995 liegt sie um die zwei Prozent.

Das bedeutet nicht, dass die eigene Wahrnehmung ganz falsch ist. Viele Produkte, besonders jene des täglichen Bedarfs, wie Lebensmittel, Kaffee und Alkohol, haben sich in den Jahren nach der Euroeinführung jenseits der offiziellen Inflationsrate verteuert. Doch berücksichtigt man alle Waren und Dienstleistungen, die für einen Konsumenten wichtig sind, wie Wohnen, Mobilität, Elektrogeräte, Freizeit- und Kulturprogramm, leben wir in einer Zeit, in der Geldentwertung über Inflation de facto keine Bedeutung mehr spielt.

Aber liegt sonst nicht einiges im Argen? Die Arbeitslosigkeit steigt seit Monaten an, und das Wirtschaftswachstum ist in Österreich schwächer geworden und liegt unter dem europaweiten Schnitt. Deshalb sind zuletzt eine Reihe von Abgesängen auf die Republik erschienen: "Österreich hat seinen Vorsprung als wirtschaftliches Erfolgsmodell verspielt", schrieben die Ökonomen der Agenda Austria vor kurzem. Bei einem Ranking des Standorts durch die Wirtschaftsprüfer von Deloitte fiel Österreich sogar aus den Top 20 wegen angeblicher Reformunwilligkeit. Angesichts dieser Kritik von "Experten" darf auch die mediale Schelte nicht ausbleiben: "Ob Arbeitslosigkeit, Vermögensschwund, Wirtschaftswachstum" : Österreich verliere an Boden, "warum protestiert dagegen niemand?", fragten unlängst die Salzburger Nachrichten.

Hohe Wirtschaftskraft

Vielleicht deshalb, weil die Abgesänge auf die Republik nicht dadurch richtiger werden, dass man sie wiederholt. Denn ein Blick auf die volkswirtschaftlich wichtigsten Indikatoren zeigt, dass Österreich in puncto Wohlstand zu einer ganz kleinen Superelite an Ländern weltweit gehört und von einem Absturz keine Rede sein kann.

Als Ausgangspunkt bietet sich die Wirtschaftsleistung an, also der Wert der im Land produzierten Waren und Dienstleistungen. Lag die Wirtschaftsleistung pro Kopf vor zehn Jahren bei 29.000 Euro, so sind es inzwischen 38.000 Euro. Österreich ist damit nicht nur eines der fünf EU-Länder mit der höchsten Wirtschaftskraft pro Kopf. Es ist auch einer der wenigen Staaten, in denen auch nach Krisenausbruch 2008 die Wirtschaftsleistung von einer Ausnahme abgesehen immer gestiegen ist.

Nun lässt sich einwenden, dass Wachstum ein ungenauer Indikator zur Wohlstandsmessung ist. Wie also sieht es mit den Einkommen aus?

Tatsächlich sind die Prop-Kopf-Nettoeinkommen in Österreich seit ein paar Jahren rückläufig. Inflation und kalte Progression (Vorrückungen in der Steuerklasse) fressen die Lohnerhöhungen auf. Doch eine genaue Analyse der Statistik Austria zeigt, dass in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren auch die Einkommen deutlich gestiegen sind (siehe Grafik). Sieht man sich die verfügbaren Haushaltseinkommen mitsamt sozialen Transferleistungen an, liegt das Nettoeinkommen heute im Schnitt um fast ein Fünftel über jenem Mitte der 1990er-Jahre. Erst in den vergangenen zwei Jahren gab es hier einen Knick. Die gute Nachricht: Mit der Steuerentlastung 2016 wird die Kurve wieder nach oben zeigen.

Die Österreicher haben auch ein beträchtliches Vermögen angesammelt. Zahlen der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB) zeigen, dass das Netto-Finanzvermögen der Haushalte seit 1995 um das Eineinhalbfache auf 405 Milliarden Euro gewachsen ist. Diese stolze Summe haben die Österreicher auf Sparbüchern liegen oder in Aktiendepots und Lebensversicherungen gesteckt.

Nun lässt sich sagen, dass diese Statistik wenig über die Verteilung aussagt. Und in der Tat: Eine Vermögensstudie der OeNB von 2012 hat gezeigt, dass Vermögen in Österreich extrem ungleich verteilt sind. Die reichsten fünf Prozent der Haushalte halten fast die Hälfte des Finanz- und Immobilienvermögens in ihren Händen. Doch immerhin mehr als die Hälfte der Haushalte besitzt ein Nettovermögen von über 76.000 Euro. Klingt nicht nach viel? In Schilling-Zeiten war man damit Millionär. Nur die "ärmsten" zehn Prozent der Haushalte besitzen abzüglich ihrer Schulden tatsächlich kein Vermögen. Das sind zwar zu viele – doch rund 70 Prozent der Haushalte haben einen ansehnlichen Besitz angehäuft.

405 Milliarden Euro Finanzvermögen

Und ja, es gibt Armut in Österreich: Laut Statistik Austria sind rund 1,5 Millionen Menschen von Armut oder Ausgrenzung gefährdet. Doch das sind um fast 130.000 Menschen weniger als noch 2008. Armut ist also rückläufig. In puncto Arbeitslosigkeit liegt Österreich innerhalb der EU-28 unter den Top-sechs-Ländern.

Die Menschen zeigen sich mit ihrem Lebensstandard auch zufrieden. Seit rund zehn Jahren beschäftigten sich Statistiker in Europa mit der Messung der Zufriedenheit der Bürger. Als wichtigste Untersuchung gelten die SILC-Erhebungen ("Community Statistics on Income and Living Conditions"). Allein in Österreich nehmen 6000 Haushalte an diesen Befragungen teil. Bei den Fragen zur Zufriedenheit müssen immer Werte zwischen eins (gar nicht zufrieden) und zehn (absolut zufrieden) angegeben werden. Die Arbeitsplatzzufriedenheit liegt in Österreich laut jüngsten SILC-Erhebungen bei acht, nur in Dänemark und Finnland ist dieser Wert etwas höher.

Die Wohnungssituation wird mit 8,3 beurteilt – der EU-Schnitt liegt bei 7,5. Die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben wird im Schnitt mit 7,8 bewertet – bei den Spitzenreitern Dänemark, Finnland und Schweden ist dieser Wert nur leicht höher. Selbst Haushalte mit niedrigem und ganz niedrigem Einkommen sind vergleichsweise zufrieden – was zeigen würde, dass der Sozialstaat hält, was er verspricht.

Zu einem erfüllten Leben zählt natürlich mehr als nur materieller Wohlstand. Die Statistik Austria hat vier Faktoren zusammengetragen, die entscheidend dafür sind, ob Menschen zufrieden sind: Neben materiellen Lebensbedingungen sind dies Gesundheit, Wohnumgebung und Partnerschaften/Freundschaften. In Österreich scheint die Gesamtmischung zu stimmen.

Mikro- und Makroebene

Bemerkenswert ist ein Paradoxon: Während das eigene Leben positiv beurteilt wird, bekommt das Umfeld miserable Noten. Das Vertrauen in das politische System liegt gerade bei 4,4. Auch mit dem Rechtssystem, der Polizei und Gemeindebehörden sind die Menschen weniger zufrieden als mit dem eigenen Leben, zum Teil deutlich weniger. "Es gibt eine starke Divergenz zwischen Mikro- und Makroebene", sagt Konrad Pesendorfer, Chef der Statistik Austria. Aber wie kann es sein, dass das eigene Leben so positiv gesehen wird, während alles, was objektiv dafür verantwortlich sein kann – Politik, das Rechtssystem, die Verwaltung -, als schlecht beurteilt wird?

Der Statistiker Pesendorfer sieht eine Unfähigkeit der Politik, auf aktuelle Krisen zu reagieren, wie man an den Beispielen der Pleitebank Hypo oder der Asylkrise sehe. Das hinterlasse einen tiefen Eindruck bei vielen Menschen.

Vielleicht liegt die Ursache aber woanders. Der britische Soziologe Nikolas Rose argumentiert, dass der Neoliberalismus die Rolle des Individuums in der Gesellschaft nachhaltig transformiert hat. Der Bürger soll eigenverantwortlich und im Konkurrenzkampf mit seinen Mitmenschen sein Glück und Wohl erkämpfen. Vorbild ist eine "Ethik des Unternehmertums".

In modernen Risikogesellschaften ist aber kein Lebensweg nur von Erfolg gekennzeichnet. Beruflich und privat gibt es Rückschläge. Wer gelehrt wird, für diese allein verantwortlich zu sein, entwickelt schnell Frust und sucht die Schuldigen erst recht woanders. Für diese Enttäuschung bietet der Neoliberalismus eine Zielscheibe an, wie Rose in seinem Aufsatz "Das Regieren von unternehmerischen Individuen" beschreibt. Zum Feindbild wird der Wohlfahrtsstaat, mit seiner "Bürokratie und Ineffizienz", gemacht. Somit erzeugt und kanalisiert der Neoliberalismus jenen Frust, aus dem seine Stärke erwächst. (Andras Szigetvari, 22.8.2015)