Früher mag es für Ärzte gereicht haben, in dicken Lehrbüchern nachzuschlagen, um ihre Patienten nach bestem Wissen zu behandeln. Heute gelten medizinische Fachbücher oft schon als überholt, wenn sie erscheinen.

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Gerald Gartlehner nimmt für derStandard.at regelmäßig aktuelle Studien unter die Lupe.

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Der große rote, juckende Fleck in seiner linken Kniekehle beunruhigt Paul K. Hat ihn an derselben Stelle nicht einen Monat zuvor eine Zecke gebissen? Und übertragen diese blutsaugenden Tiere nicht die gefährliche Krankheit Borreliose? Leicht panisch tippt K. den Namen der Krankheit auf Google ein. Schlagartig spuckt ihm die Suchmaschine 800.000 Ergebnisse aus. Doch welche davon seriös und welche getarnte Werbung von Pharmaherstellern sind, verrät Google ihm nicht.

Ratlos sucht K. seine Hausärztin auf. Auch sie ist sich nicht sicher, schickt ihn zur Laboruntersuchung und zum Hautarzt. Nach Ordinationsschluss beschließt sie, ihr Wissen aufzufrischen. In der medizinischen Fachdatenbank Pubmed sucht sie nach den neusten Studien zu Borreliose. Ergebnis: 11.500 Treffer.

500 neue Studien pro Woche

Auf dem neuesten Stand der Wissenschaft kann heute kein Arzt mehr sein. Denn jede Woche erscheinen mehr als 500 neue klinische Studien. Wer soll die alle nebenher lesen? Ausgedruckt entspricht das einem Stapel von eineinhalb Metern. Und die Zahl der Studien nimmt ständig zu. Im Vergleich zum Jahr 1980 hat sich der medizinische Output verfünffacht.

Das Problem ist nicht die Menge an Forschungsergebnissen, die Wissenschafter rund um den Globus täglich produzieren. Es hapert vor allem daran, innerhalb kurzer Zeit aus dem riesigen Haufen an Studien genau die Information herauszufiltern, die eine Ärztin oder ein Arzt gerade benötigt.

An diesem Problem nagen Wissenschafter seit den 1980er-Jahren. In sogenannten "systematischen Übersichtsarbeiten" sammeln sie alle gefundenen Studien zu einem Thema, bewerten deren Vertrauenswürdigkeit und rechnen die Daten gemeinsam neu zusammen. Das Ergebnis ist eine Zusammenfassung aller bisher relevanten Studien auf ein paar Seiten Papier. Ein weitaus effizienterer Zugang, als Einzelstudien zu lesen – aber trotzdem werden jede Woche noch immer rund 80 solcher "systematischen Übersichtsarbeiten" veröffentlicht.

Veraltetes Wissen

Patienten erwarten zu Recht, nach dem letzten Stand der Wissenschaft behandelt zu werden. Früher mag es für Ärzte gereicht haben, in dicken Lehrbüchern nachzuschlagen, um ihre Patienten nach bestem Wissen zu behandeln. Heute gelten medizinische Fachbücher oft schon als überholt, wenn sie erscheinen. Dass Ärzte sich zweimal im Jahr auf Pharmaindustrie-gesponserten Fortbildungen über die neuesten Studienergebnisse informieren lassen, kann auch nicht die Lösung für dieses Problem sein.

Was es braucht, ist ein unkomplizierter Echtzeitzugang zu objektivem und vor allem aktuellem Wissen. Das lässt sich bei der stetigen Flut an neuen Forschungsergebnissen nicht ohne moderne Wissensmanagement-Systeme bewältigen. In Zukunft sollen solche Systeme die wichtigsten Punkte der aktuellen Studienlage automatisch zusammenfassen – und auf dem Smartphone des Stationsarztes verfügbar machen, während der gerade im Spital auf Visite unterwegs ist.

Der Wert von gut aufbereiteter Information

Die Entwicklung von solchen Lösungen ist bereits in vollem Gang. Im Oktober findet dazu in Wien eine internationale Konferenz statt, auf der Wissenschafter des unabhängigen Cochrane-Netzwerks ihre Vorschläge zur Bändigung der Informationsflut diskutieren werden.

Manche Länder haben bereits erkannt, dass der einfache Zugang zu aktuellen und "sauberen" wissenschaftlichen Informationen für die Gesundheit der Bevölkerung genauso wichtig ist wie der zu sauberem Trinkwasser. Norwegen investiert 30 Millionen Euro pro Jahr in das Norwegian Knowledge Center, um der Bevölkerung Zugang zu gut aufbereiteter medizinischer Information zu verschaffen. Großbritannien finanziert Cochrane UK mit sechs Millionen Pfund, Dänemark stellt dem Nordischen Cochrane-Zentrum drei Millionen Euro zur Verfügung. Was investiert Österreich in diesen Bereich? Nichts. (Gerald Gartlehner, 21.8.2015)